85Individueller Schadenersatzanspruch steht Anspruch auf Heimopferrente nicht entgegen
Individueller Schadenersatzanspruch steht Anspruch auf Heimopferrente nicht entgegen
Hat eine Person aufgrund von im Rahmen einer Unterbringung iSd § 1 Abs 1 Heimopferrentengesetz (HOG) erlittener Gewalt Anspruch auf Schadenersatz gegen den Schädiger, so steht dies dem Anspruch auf Heimopferrente nach § 1 HOG nicht entgegen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Person den Schadenersatzanspruch gegen den Schädiger geltend gemacht hat und ob sie aus dem Titel des Schadenersatzes Leistungen erhalten hat oder nicht.
Der am 19.3.1954 geborene Kl wurde als Internatsschüler in den Schuljahren 1968/69 bis 1970/71 mehrfach sexuell missbraucht. Am 8.1.2012 brachte er eine Klage gegen den Heimträger, das römisch-katholische Zisterzienserkloster *, ein, mit der er € 150.000,- Schmerzengeld und € 50.000,- Verdienstentgang begehrte. Dieses Verfahren endete mit außergerichtlichem Vergleich, mit welchem sich der Heimträger ohne konkrete Widmung zu einer Zahlung von € 60.000,- verpflichtete.
Seit 1.7.2017 bezieht der Kl eine Eigenpension. Mit Bescheid vom 17.11.2017 lehnte die Bekl den Antrag des Kl auf Zuerkennung einer Heimopferrente ab.
Gegen den Bescheid vom 17.11.2017 erhob der Kl am 4.12.2017 eine auf Gewährung einer Heimopferrente im gesetzlichen Ausmaß gerichtete Klage mit Eventualbegehren auf Gewährung der Heimopferrente in konkreter Höhe von 1.7.2017 bis laufend.
Das Berufungsgericht verwies die Rechtssache wegen Feststellungs- und Verfahrensmängel an das Erstgericht zurück und überband diesem die Rechtsansicht, dass die mit Vergleich zuerkannte Leistung dem Anspruch auf Heimopferrente nicht entgegenstehe.
Im zweiten Rechtsgang gab das Erstgericht dem Eventualbegehren statt. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl nicht Folge und ließ die Revision mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung nicht zu.
Die außerordentliche Revision wurde vom OGH zugelassen, da es noch keine Klarstellung durch höchstgerichtliche Rsp hinsichtlich der Frage gibt, ob die Gewährung einer individuellen Entschädigungsleistung des Trägers einer Einrichtung für die während einer Unterbringung iSd § 1 Abs 1 182HOG erlittene Gewalt der Zuerkennung einer Heimopferrente nach § 1 HOG entgegensteht.
Der OGH gab der Revision aber nicht Folge.
„[…]
1.4. § 1 HOG unterscheidet […] – in der geltenden ebenso wie in seiner Stammfassung – zwei Gruppen von Anspruchsberechtigten […]. Die erste Gruppe umfasst jene Personen, denen von einem Heim- oder Jugendwohlfahrtsträger oder den von diesen mit der Abwicklung der Entschädigung beauftragten Institutionen (Kommissionen) bereits eine pauschalierte Entschädigungsleistung zuerkannt wurde. Die zweite Gruppe umfasst die Personen, bei denen dies nicht der Fall ist, sei es, weil ihr Ansuchen auf Entschädigungsleistung abgelehnt wurde, sei es, weil sie ein solches gar nicht gestellt haben.
1.5. Die Zuerkennung einer pauschalierten Entschädigungsleistung hat (nur) zur Folge, dass der Opferstatus (die erlittene Gewalt), nicht mehr gesondert zu prüfen ist. Die Intention ist, jene Opfer, welche eine pauschalierte Entschädigungsleistung erhalten haben, nicht neuerlich mit dieser Gewalttat zu konfrontieren (Madlener, Heimopferrentengesetz [HOG], im Innsbrucker Jahrbuch zum Arbeitsrecht und Sozialrecht 2018, 215 [237]). Die Personen, denen keine pauschalierte Entschädigungsleistung zuerkannt wurde, müssen ihren Opferstatus – die erlittene Gewalt – hingegen im Verfahren „wahrscheinlich machen“. […]
1.7. Eine Regelung der Auswirkungen einer individuellen Schadenersatzleistung des Trägers der Einrichtung, in der die Gewalt zugefügt wurde, enthält das HOG weder in seiner Stammfassung noch in der Fassung der Novelle BGBl I 2018/49BGBl I 2018/49.
Eine Aussage dazu findet sich lediglich in den Materialien zur Stammfassung des HOG. Dort ist ausgeführt (BegründIA 2155/A BlgNR 25. GP 7; wortgleich AB 1645 BlgNR 25. GP 2):
„Die pauschalierte Entschädigungsleistung der Heimträger (mit Schmerzengeldcharakter), die Voraussetzung, für die zwölfmal jährlich zu erbringende Rentenleistung ist, wurde von den Heimträgern ohne gesetzliche Regelung auf privatwirtschaftlicher Basis für vorsätzliche Gewalttaten in Heimen geschaffen. Bei einer gerichtlich zuerkannten oder mit Vergleich festgesetzten individuellen Entschädigung durch die Heimträger (welche in der Regel die Ansprüche endgültig und umfassend regelte und die Höhe der pauschalierten Entschädigungsleistung überstieg) soll keine Zuerkennung einer Rentenleistung ermöglicht werden.“ […]
3.1. Die in § 1 HOG geregelten Voraussetzungen eines Anspruchs auf Heimopferrente nehmen auf den Erhalt einer individuellen Schadenersatzleistung vom Täter oder Heimträger nicht Bezug. Aus dem Gesetzeswortlaut kann die in den Materialien angesprochene negative Anspruchsvoraussetzung einer individuellen Entschädigung […] nicht abgeleitet werden. Das gilt sowohl für titulierte als auch für vom Opfer (noch) gar nicht geltend gemachte, rechtlich aber bestehende Schadenersatzansprüche.
3.2. Der Systematik des HOG ist vielmehr zu entnehmen, dass der Erhalt einer Entschädigung den Rentenanspruch weder mindern noch ihm entgegenstehen soll. Zu berücksichtigen ist vielmehr, dass der Bezug der Heimopferrente vom Erhalt einer Entschädigung seitens des Heimträgers (oder des Trägers einer der sonstigen erfassten Einrichtungen) unabhängig ist. Personen, die Opfer von Gewalt iSd § 1 Abs 1 HOG wurden, steht es frei, eine pauschalierte Entschädigungsleistung zu beantragen oder nicht. Wird ihnen eine solche zuerkannt, haben sie dennoch Anspruch auf Heimopferrente in ungekürzter Höhe. Gründe dafür, eine aus dem Titel des Schadenersatzes erbrachte individuelle Entschädigungsleistung anders zu behandeln, sind nicht ersichtlich.
3.3. […] [D]er Zweck der Heimopferrente [liegt] nicht im Ausgleich eines konkret erlittenen Schadens, auch nicht eines immateriellen Schadens […] (vgl VfGH G 189/2018, VfSlg 20.278). Die Heimopferrente ist vielmehr eine pauschale, zusätzliche Rente für eine vom Gesetzgeber als besonders schutzwürdig erachtete Personengruppe im Regelpensionsalter oder in der Eigenpension, wobei die Heimopferrente den gemäß § 1 Abs 1 HOG anspruchsberechtigten Personen unabhängig von der Beurteilung der tatsächlichen Höhe des entstandenen Schadens gewährt wird (VfGH G 189/2018). […]
Zusammengefasst gilt: Hat eine Person aufgrund von im Rahmen einer Unterbringung iSd § 1 Abs 1 HOG erlittener Gewalt Anspruch auf Schadenersatz gegen den Schädiger, so steht dies dem Anspruch auf Heimopferrente nach § 1 HOG nicht entgegen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Person den Schadenersatzanspruch gegen den Schädiger geltend gemacht hat und ob sie aus dem Titel des Schadenersatzes Leistungen erhalten hat oder nicht.“
Die Heimopferrente nach dem HOG ist eine zwölfmal jährlich gebührende Zusatzrente, welche Personen zusteht, die zwischen dem 9.5.1945 und 31.12.1999 im Rahmen einer Unterbringung in Kinder- oder Jugendheimen des Bundes, der Länder und Gemeinden, Gemeindeverbänden oder Kirchen, in Pflegefamilien, in Kranken-, Psychiatrie- oder Heilanstalten oder vergleichbaren Einrichtungen oder in entsprechenden privaten Einrichtungen (sofern die Zuweisung durch einen Jugendwohlfahrtsträger erfolgte) Opfer von Gewalt wurden.
Die Rente gebührt in Höhe eines Fixbetrages iHv € 347,40 monatlich (Wert 2022) ab dem Erreichen des Regelpensionsalters bzw ab dem früheren Be183zug einer Eigenpension, eines Rehabilitationsgeldes oder einer wegen Erwerbsunfähigkeit weitergewährten Waisenpension sowie bei Bezug von Mindestsicherung bei dauerhafter Arbeitsunfähigkeit.
Es werden zwei Gruppen von Anspruchsberechtigten unterschieden:
Jene Personen, denen bereits eine pauschalierte Entschädigungsleitung von einem Heim- oder Jugendwohlfahrtsträger oder den von diesem mit der Abwicklung der Entschädigung beauftragten Institutionen zuerkannt wurde (§ 1 Abs 1 HOG).
Jene Personen, bei denen dies nicht der Fall ist (§ 1 Abs 2 HOG).
Der einzige Unterschied zwischen diesen Gruppen ist, dass bei jenen Opfern, die bereits eine pauschalierte Entschädigungsleistung erhalten haben, der Opferstatus nicht mehr zu prüfen ist. Da diese Personen den Opferstatus ohnehin im Entschädigungsverfahren darlegen mussten, erachtet der Gesetzgeber es als nicht notwendig, sie abermals mit der erlittenen Gewalt zu konfrontieren (Madlener in Reissner/Mair [Hrsg], Innsbrucker Jahrbuch 237). Die Absicht der Norm ist daher, die Opfer vor Retraumatisierung zu schützen.
Personen, die keine pauschalierte Entschädigungsleistung erhalten haben, müssen die erlittene Gewalt hingegen im Heimopferrentenverfahren „wahrscheinlich machen“.
Durch die Rentenleistung soll den betroffenen Personengruppen zum einen ein etwaiger Einkommensnachteil, welcher durch staatliches Wegsehen bzw Nicht-Hinsehen entstanden ist, zumindest teilweise und pauschal kompensiert werden (Madlener in Reissner/Mair [Hrsg], Innsbrucker Jahrbuch zum Arbeitsrecht und Sozialrecht 2018, 224). Zum anderen sollen die Betroffenen über eine einmalige Entschädigungs- oder Anerkennungsleistung hinaus (pauschal) mit einer monatlichen Leistung entschädigt werden – unabhängig allerdings vom tatsächlich erlittenen Schaden oder tatsächlich erlittenen Einkommensnachteil.
Zweck ist es gerade nicht, einen konkret erlittenen (immateriellen) Schaden auszugleichen, sondern eine besonders schutzwürdige Personengruppe finanziell zu unterstützen. Es steht den betroffenen Personen frei, eine pauschalierte als auch eine individuelle Entschädigungsleistung zu beantragen oder nicht. Selbst wenn ein individuell geltend gemachter Schadensersatzanspruch den Gesamtschaden finanziell bereinigen würde, so stünde dieser dem Bezug einer Heimopferrente nicht entgegen. Betroffene, die ihren Anspruch gerichtlich durchgesetzt haben, sollen nicht schlechter gestellt werden als Betroffene, die ihren Anspruch nicht gerichtlich durchgesetzt haben (Pinggera/Körner, Das Heimopferrentengesetz – Überblick und Ausblick, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2019, 171).