57. Wissenschaftliche Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht

VIKTORIASTRASSERANDRÉFLATSCHER

Nach einem von Covid geprägten Winter konnte nun die 57. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht endlich wieder im gewohnten Rahmen stattfinden. Die sinkenden Coronazahlen (wohl auch das stimmungsaufhellende, angenehme Frühlingswetter) erlauben das Träumen von einer Normalität wie vor der Pandemie. So füllte sich das Ferry Porsche Congress Center vom 6. bis 8.4.2022 mit über 400 Teilnehmer*innen aus Lehre und Praxis, die sich alle nach einem ergiebigen wissenschaftlichen und persönlichen Austausch in Präsenz sehnten, wie es die Zeller Tagung jedes Jahr zu bieten hat. Die Freude darüber konnte selbst der Präsident der Gesellschaft, Univ.-Prof. Dr. Rudolf Mosler, in seinen Eröffnungsworten nicht gänzlich verbergen. Auch der Bürgermeister Andreas Wimmreuter richtete einige einleitende Worte an die Teilnehmer*innen und unterstrich in diesem Zuge erneut die umfassende Wichtigkeit dieser Tagung.

Die Moderation für den ersten Tag der Veranstaltung, der sich wie üblich auf arbeitsrechtliche Themen fokussierte, übernahm auch dieses Jahr wieder RAin Hon.-Prof.in Dr.inSieglinde Gahleitner (Mitglied des VfGH). Nach kurzen Dankesworten ihrerseits machte Univ.-Prof. Dr. Reinhard Resch (Universität Linz) mit seinem Vortrag „ArbeitnehmerInnenschutzrecht: Fürsorgepflicht und Mitwirkungspflichten der ArbeitnehmerInnen“ den Anfang. Im Mittelpunkt der Präsentation stand der in Art 5 und 13 der RL 89/391/EWG sowie in § 15 ASchG zum Ausdruck kommende Grundsatz, dass zwar die Hauptverantwortung für die Umsetzung des Arbeitnehmer*innenschutzes bei den einzelnen AG liege, AN aber stets eine „mittragende Figur“ seien und in diesem Zusammenhang selbst Träger von Rechtspflichten werden. So sei etwa ein Angestellter eines Alten- und Pflegeheimes dazu verpflichtet, sich regelmäßig auf eine Infektion mit Covid-19 testen zu lassen, da der*die AG im Allgemeinen aber auch aufgrund aktueller Maßnahmen-VO für den Gesundheitsschutz aller im Heim zu sorgen habe. Ziel des Referenten war es nun, die dogmatischen Grundlagen dieser Konstruktion zu beleuchten. Dabei wurde die Treuepflicht als alleiniger Anknüpfungspunkt verneint. Vielmehr sei jede Nebenpflicht entweder auf eine gesetzliche Anordnung oder eine vertragliche Vereinbarung zurückzuführen, deren Inhalt allenfalls durch ergänzende Vertragsauslegung nach den §§ 914 f ABGB zu ermitteln sei. Als Bei193spiele für derartige Nebenpflichten im arbeitsvertraglichen Kontext wurden insb die Leistungstreuepflicht sowie die Schutzpflicht der AN gegenüber Gütern des*der AG genannt. Einer abschließenden Auflistung seien Nebenpflichten aber nicht zugänglich, man müsse sie stets anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls bestimmen. Besonders zu berücksichtigen sei hier die genaue Tätigkeit, zu der sich ein*e AN verpflichtet hat.

Die anschließende Diskussion wurde von Univ.-Prof. Dr. Walter J. Pfeil mit der Anmerkung eröffnet, dass AN „auch nur Menschen“ seien und nicht zu gar allem verpflichtet werden können. Im Zuge einer Abwägung mit anderen Pflichten der AN sei nämlich zu prüfen, welche Verhaltensweisen den AN auch wirklich zugemutet werden können. Für zahlreiche Kontroversen sorgten dann aber Covid-19-spezifische Problemstellungen. Insb wurde die Frage aufgeworfen, ob die Anfechtung einer Motivkündigung nach § 105 Abs 3 Z 1 lit i immer dann möglich sei, wenn keine konkrete Maßnahmen-VO vorliege und Ansprüche des*der AN aus diesem Grund vertretbar seien. Entgegnet wurde hierauf, dass bei besonders kritischen Standpunkten durchaus angezweifelt werden könne, ob es sich überhaupt um „offenbar nicht unberechtigte Ansprüche“ der AN iSd § 105 Abs 3 Z 1 lit i handle. Auch sei die jeweilige Formulierung des*der AG von entscheidender Bedeutung, da die von den AN geltend gemachten Ansprüche auch stets durch den*die AG „in Frage gestellt“ werden müssen. Außerdem wurde vom Referenten vertreten, dass ein Heimpfleger, der sich generell nicht auf Covid-19 testen lassen will, sogar einen Entlassungsgrund setze.

Im zweiten Vortrag widmete sich Prof. Dr. Olaf Deinert (Universität Göttingen) dem Thema „Die europäische Säule sozialer Rechte: Rechtsnatur und Implikationen für das nationale Arbeitsrecht“. Im Anschluss an eine historische Einordnung wurde insb der Frage nachgegangen, welche politischen und rechtlichen Wirkungen denn die auf das Jahr 2015 zurückgehende Säule sozialer Rechte entfalte. Im Laufe der Präsentation zeigte sich, dass es sich hierbei „nur“ um ein politisches Programm handle. Die Säule soll demnach als Ausgangspunkt für eine weiterführende Umsetzung sozialer Rechte durch die EU einerseits und die Mitgliedstaaten andererseits dienen. Auch wenn die Säule somit keine rechtliche Bindungswirkung besitze und insb nicht als Grundrechtskatalog zu qualifizieren sei, so sei sie dem Referenten zufolge dennoch nicht vollkommen bedeutungslos. Sie könne nämlich als Auslegungshilfe sowohl für Unionsrecht als auch unter Umständen für nationales Recht herangezogen werden. Außerdem sei sie ein wichtiger Maßstab dafür, in welche Richtung sich die EU und die Mitgliedstaaten in den kommenden Jahren entwickeln sollen. Abschließend beschäftigte sich der Vortrag mit möglichen praktischen Anwendungsfällen der Säule sozialer Rechte. Als Beispiel wurde angeführt, dass bei der Entscheidung über den Anspruch auf deutsche Grundsicherungsleistung eines*einer Ausländers*in die Säule als Argumentationsbaustein herangezogen werden könnte.

In der daran anknüpfenden Diskussion wurde insb Art 7 lit b der Säule sozialer Rechte thematisiert, der dem*der AN das Recht zuschreibt, vor einer Kündigung die Gründe dafür zu erfahren. Deinert meinte hier, dass diese Vorschrift ohne weiteres für die Interpretation von Unionsrecht herangezogen werden könne, wie beispielsweise der Transparenz-RL. Beim nationalen Recht hingegen werde eine solche Auslegung wohl dann ins Leere gehen, wenn es keine Begründung für die Kündigung vorsieht, wie es vor allem in Österreich der Fall ist. Abgesehen davon wurde auch die Frage aufgeworfen, ob die Säule sozialer Rechte bei der Interpretation kompetenzrechtlicher Normen im AEUV eine Rolle spielen könnte. Konkret bezog sich dies auf Art 153 Abs 5 AEUV, der keine Kompetenz der EU zur Regelung des Arbeitsentgelts vorsieht. Diesbezüglich vertrat der Referent den Standpunkt, dass die Säule sozialer Rechte keine neuen Kompetenzen schaffe und somit auch nicht zur Erweiterung einzelner im AEUV verankerter Kompetenzen führen könne. Dass sie für die Auslegung anderer nicht-unionsrechtlicher, sondern allgemein völkerrechtlicher Verpflichtungen eines Mitgliedstaates nutzbar gemacht werden kann, könne aber durchaus vertreten werden.

Ass.-Prof.in Dr.inErika Kovács referierte im dritten und letzten Vortrag zum Thema „Whistleblowing“. Zunächst widmete sie sich dabei dem – für Laien, aber auch für Jurist*innen schwer zu fassenden – persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der Whistleblower-RL (EU) 2019/1937. Dieser ist prinzipiell nur bei Verstößen bestimmter Bereiche des Unionsrechts eröffnet, die zusätzlich noch von einem im Anhang der RL aufgelisteten Sekundärrechtsakt erfasst sein müssen. Insb Arbeits-(schutz-)vorschriften fallen daher nicht unter den Geltungsbereich der RL. Anschließend beschäftigte sich die Referentin mit betriebsverfassungs- und individualrechtlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit der Umsetzung der RL und nahm dabei speziell auf den (zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichten) ministeriellen Arbeitsentwurf des Umsetzungsgesetzes Bezug. Bei der Einführung eines internen Meldesystems solle es stets auf dessen konkrete Ausgestaltung ankommen. Vor allem ein internes Meldesystem, welches bloß die Mindestanforderungen der Whistleblower-RL umsetzt, sei nicht zustimmungspflichtig iSv § 96 Abs 1 Z 3 ArbVG, da das Interesse des*der AG an Kontrolle aufgrund der gesetzlichen Verpflichtung überwiege. Abgesehen davon wurde auch explizit das Recht der AN angesprochen, allfällige Verstöße des*der AG zu melden. Dabei sei immer auf die Treuepflicht, die AN zur Wahrung der unternehmerischen Interessen seines*ihrer AG verpflichtet, Bedacht zu nehmen. AN stehe nämlich aufgrund dieser Treuepflicht bei Whistleblowing nur dann ein Schutz zu, wenn sie an die Richtigkeit ihres 194Hinweises glauben. Personen, die wissentlich falsche oder irreführende Informationen weitergeben, sollen folglich nicht geschützt sein. Für den wohl nicht seltenen Fall der Fahrlässigkeit enthalten aber weder RL noch Umsetzungsentwurf Regelungen. Abschließend gab Kovács eine Bewertung zum derzeitigen Arbeitsentwurf des Umsetzungsgesetzes ab. Dieser sei zwar unionsrechtskonform, aber wenig systemfreundlich, weil die Vorschriften nicht an die bestehende Rechtslage anknüpfen. Das schade letztlich auch der Anwenderfreundlichkeit des Gesetzes.

Die darauffolgende Diskussion ging vor allem auf das Verhältnis zwischen der erörterten RL und der Rsp des EGMR zu Art 10 EMRK ein. Dabei wurde hervorgehoben, dass Judikatur und RL in einigen wesentlichen Punkten, etwa der Gleichrangigkeit von interner und externer Meldung, nicht aufeinander abgestimmt seien. Insgesamt biete die RL aber laut der Referentin einen höheren Schutz, da neben der Kündigung und Entlassung auch weitere Repressalien der AG erfasst seien und außerdem ein institutioneller Schutz geschaffen werde. Bei der Fragestellung, wie die Beweislast bei Whistleblowing-Fällen verteilt ist, vertrat Kovács den Standpunkt, dass die RL – anders als im Antidiskriminierungsrecht – eine „echte“ Beweislastumkehr bewirkt, da AN lediglich darlegen müssen, dass sie eine Meldung abgegeben und daraufhin eine Repressalie erlitten haben, wohingegen AG beweisen sollen, dass die Sanktion aus anderen Gründen erfolgt ist. Hingegen fraglich scheint, wie der Kündigungsschutz für hinweisgebende AN konkret ausgestaltet ist, da der Umsetzungsentwurf diesbezüglich keine Regelung enthält. Der RL zufolge könne er wohl sowohl durch eine Anfechtungsklage als auch durch eine Feststellungsklage realisiert werden.

Abgeschlossen wird der erste Veranstaltungstag traditionell von einem interaktiv gestalteten Seminar, das in diesem Jahr von Univ.-Ass. Mag. Dr. Johannes Warter (Universität Salzburg) zum Thema „Der Arbeitszeitbegriff im Unionsrecht und im nationalen Recht“ abgehalten wurde. Dabei wurde auf Basis zahlreicher Entscheidungen der nationalen und europäischen Gerichte versucht, dem Publikum den durchaus komplexen Arbeitszeitbegriff des § 2 AZG und Art 2 Z 1 Arbeitszeit-RL 2003/88/EG näher zu bringen. Im Anschluss an eine allgemeine Einführung fokussierte sich das Seminar auf drei spezielle Problembereiche im Zusammenhang mit Arbeitszeit, nämlich Umkleidezeiten, Arbeitsbereitschaft bzw Rufbereitschaft sowie Wegzeiten. Im ersten der drei Abschnitte wurde beispielsweise der Frage nachgegangen, ob es sich schon um Arbeitszeit handelt, wenn es ein*e AG seinen*ihren Mitarbeiter*innen gestattet, ihre auffällige Arbeitskleidung (in diesem Fall ein Piratenkostüm) bereits zu Hause anzuziehen und damit in die Arbeit zu kommen (OGH 25.5.2020, 9 ObA 13/20g). Bei der daran anschließenden Debatte, welche Dienstkleidung AN auf ihrem Weg zur Betriebsstätte zugemutet werden kann, wurde schnell klar, dass die Intensität der Fremdbestimmung der AN das entscheidende Kriterium für die Qualifikation als Arbeitszeit oder Freizeit darstellt. Dieser Grundsatz kommt auch in den im Rahmen des Seminars behandelten Entscheidungen des EuGH zur Arbeitsbereitschaft bzw Rufbereitschaft und den – aufgrund zeitlicher Knappheit leider zu kurz gekommenen – Fällen zur Wegzeit klar zum Ausdruck. So bewertete es der EuGH beispielsweise in der Rs C-518/15 (21.2.2018, Matzak) als Arbeitszeit, wenn sich ein im Bereitschaftsdienst befindlicher AN innerhalb von acht Minuten in der Dienststelle einfinden muss, da hier seine privaten Gestaltungsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt sind. Diese Judikatur traf beim Publikum grundsätzlich auf Zustimmung, wohingegen bei mehr zeitlichem Spielraum zum Eintreffen in der Betriebsstätte, wie etwa bei 20 Minuten, die Meinungen wieder auseinander gingen.

Wie jedes Jahr hatte der letzte Veranstaltungstag einen sozialrechtlichen Schwerpunkt. Der von RA Univ.-Prof. Dr. Franz Marhold moderierte Tag wurde mit einem Vortrag des Präsidenten der Gesellschaft, Univ.-Prof. Dr. Rudolf Mosler, zum Thema „Steuerung im Gesundheitswesen durch Vertragspartnerrecht“ eröffnet. Zunächst wurde die durchaus schwierige Ausgangslage dargestellt, die insb auf die zersplitterte Kompetenzverteilung sowie die damit einhergehende unterschiedliche Finanzierung zurückzuführen sei. Im Anschluss daran schilderte der Referent eines der Hauptprobleme in diesem Zusammenhang, nämlich die Frage nach der Verbindlichkeit des Österreichischen Strukturplans Gesundheit (ÖSG) und der regionalen Strukturpläne Gesundheit (RSG). Seit 2017 werden die von der Zielsteuerungskommission im Vorhinein gekennzeichneten Abschnitte von einer ausschließlich zu diesem Zweck errichteten GesundheitsplanungsGmbH zur Verordnung erklärt. Während diese höchst fragwürdige Konstruktion derzeit vom VfGH geprüft wird, bereite die Verbindlichkeit des im ÖSG enthaltenen Großgeräteplans – mit Verweis auf die Regelung in § 338 Abs 2a ASVG – weniger Probleme. Drittes Hauptthema des Vortrags war die Stellenplanung und damit zusammenhängende Problemstellungen. Besonders im Fokus stand dabei das komplexe Verhältnis zwischen Gesundheitsplanung und gesamtvertraglicher Stellenplanung. Eine unmittelbare Bindung an ÖSG und RSG sei zu verneinen, jedoch haben beide laut dem Referenten eine hohe Autorität, sodass etwa – entgegen der Auffassung des VwGH – ein älterer Stellenplan keinen Vorrang gegenüber ÖSG und RSG habe. Bezüglich des Verhältnisses zwischen gesamtvertraglichem Stellenplan und bundeslandspezifischen, gesamtvertraglichen Honorarvereinbarungen, die ebenfalls Stellenpläne enthalten können, wurde vertreten, dass zweitere nur eine ergänzende Funktion haben können.

In der darauffolgenden Diskussion wurde auf den Prüfbeschluss des VfGH zur Konstruktion der Verbindlicherklärung der Strukturpläne eingegangen, 195dessen Ausgang derzeit noch ungewiss ist. Eine weitgehende Aufhebung hätte zweifellos gravierende Auswirkungen. Sollte der VfGH wesentliche Teile der Zielsteuerung Gesundheit als verfassungswidrig aufheben, sei eine sinnvolle, bundesweite Steuerung des Gesundheitswesens einzig und allein durch eine Kompetenzbereinigung möglich. Abgesehen davon wurde die Frage aufgeworfen, ob aus § 338 Abs 2a der Gegenschluss gezogen werden könne, dass der ÖSG – abgesehen vom Großgeräteplan – nicht als rechtsverbindlich anzusehen sei. Dies wurde von Mosler verneint, zwar sei der ÖSG durch eine Vielzahl an unbestimmten und programmatischen Normen sehr auslegungsbedürftig, letzten Endes könne das Bemühen des Gesetzgebers zur Steuerungsnormierung aber nicht völlig ignoriert werden. Außerdem wurden die Vor- und Nachteile einer Abschaffung der Kostenerstattung bei den Wahlärzten diskutiert. Da eine völlige Beseitigung uU unionsrechtswidrig wäre, wäre eine Abschaffung der Kostenerstattung nur innerstaatlich möglich, womit aber das Problem entstehe, ob dies nicht als verbotene Inländerdiskriminierung anzusehen sei.

Im letzten Vortrag referierte Univ.-Prof.in MMag.a Dr.inMichaela Windisch-Graetz zur Thematik „Grenzüberschreitendes mobiles Arbeiten und Sozialversicherung“. Den Tagungsteilnehmer*innen wurde dabei zunächst ein Überblick über die Grundprinzipien des einschlägigen Kollisionsrechts geboten. Im weiteren Verlauf wurde auf konkrete Fragestellungen bei mobilen AN eingegangen. Die Möglichkeit, rein internetbasiert vom Home-Office aus zu arbeiten, bringe das Problem mit sich, dass jene Sozialrechtsordnung anwendbar sei, in der sich der*die AN gerade physisch aufhalte. AG würden sich daher bei der Gewährung von Home-Office ungewollt mit einer Vielzahl ausländischer Rechtsordnungen konfrontiert sehen. Die zur Verhinderung dieses Problems aufgekommene These, wonach die virtuellen Räume, in denen die Mitarbeiter*innen agieren, in dem Staat gedacht werden, in dem das beschäftigende Unternehmen seinen Sitz hat, wurde aber von Windisch-Graetz verneint, da es dem Regelungsziel der VO (EG) 883/2004 widersprechen würde. Anschließend legte sie den Fokus auf Art 13 der VO (EG) 883/2004 und befasste sich mit der Frage, wann ein*e AN gewöhnlich in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt. Marginale Tätigkeiten, etwa 6,5 % der Arbeitszeit, seien unbeachtlich. Verbringen AN hingegen mehr als 25 % im Home-Office, unterliegen sie nach der Kollisionsnorm nicht mehr den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaats, sondern des Wohnmitgliedstaats. Anhand der beiden EuGH-Fälle Format 1 und 2 erläuterte Windisch-Graetz schließlich die Frequenz, also wie häufig oder wie selten AN Grenzen überschreiten müssen, damit es zur Anwendbarkeit des Art 13 kommt. Demnach wird Art 13 nicht angewendet, wenn AN entweder im Rahmen eines befristeten Arbeitsvertrages tatsächlich nur im Gebiet eines einzigen Mitgliedstaats tätig sind oder die Ausübung der Beschäftigung im Gebiet eines einzigen Mitgliedstaats für die AN den Regelfall darstellt.

Der folgende Meinungsaustausch wurde mit der Anmerkung eröffnet, dass der Sitzstaat des Unternehmens keine Rolle spielen sollte, da dieser Anknüpfungspunkt manipulationsanfällig sei und die SV nicht die Interessen der AG vor Augen habe, sondern die soziale Sicherheit und Versorgung der AN. In einer anderen Wortmeldung wurde außerdem vorgebracht, dass Missbrauchsfälle aus rechtspolitischer Sicht nur dann effektiv gelöst werden könnten, wenn man der Koordinierungs-VO ein Element der Wettbewerbssicherung beifüge. Mehrfach diskutiert wurde auch die 25 %-Regel in Art 8 der Durchführungs-VO 987/2009. Diese führe nämlich dazu, dass AN in Vollzeitarbeit, die nur zwei Tage pro Woche im grenzüberschreitenden Home-Office arbeiten, in die Sozialrechtsordnung eines anderen Mitgliedstaates „kippen“ würden. Unternehmen dürften aber jene AN, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben, – aufgrund des Diskriminierungsverbots – bei der Anzahl der Home-Office-Tage nicht benachteiligen. De lege ferenda wurde daher von einigen Diskutant*innen eine Anhebung auf 50 % gefordert.

Das heuer am späten Nachmittag des 6.4.2022 stattfindende Nachwuchsforum bietet talentierten Jungwissenschaftler*innen die einmalige Gelegenheit, Ausschnitte ihres Dissertationsvorhabens oder Projekts vor einem Fachpublikum zu präsentieren und sich anschließend einer bereichernden, wissenschaftlichen Diskussion zu stellen. Diese Ehre wurde heuer Univ.- Ass.in Mag.aJulia Heindl, LL.M. (Universität Wien, „Kollisionsrechtliche Aspekte der Entsendung von hochmobilen ArbeitnehmerInnen“), Univ.-Ass. Mag.aFelicia Kain, LL.M. (Wirtschaftsuniversität Wien, „Die Anwendung der Prioritäts- und Antikumulierungsregeln des Art 68 VO 883/2004 auf Familiensachleistungen“) und Univ.- Ass.in Mag.aMagdalena Mißbichler (Universität Salzburg, „Rechtswidrigkeit betriebsrätlichen Handelns“) zuteil.

Zum Abschluss sprach der Präsident der Gesellschaft gebührenden Dank an alle Tagungsteilnehmer*innen und engagierten Diskutant*innen, aber speziell auch an das Organisationsteam und alle technischen Mitarbeiter*innen aus, die wie jedes Jahr einen erfolgreichen und reibungslosen Ablauf der Tagung ermöglichten.

Überdies gilt besonderer Dank den Verlagen, die die Tagung auch dieses Jahr wieder tatkräftig unterstützt haben: Manz-Verlag, ÖGB-Verlag, Linde Verlag, Verlag LexisNexis und facultas Verlag.

Die nächste Zeller Tagung wird – hoffentlich ebenso im gewohnten Rahmen – von 29. bis 31.3.2023 stattfinden. Wir freuen uns darauf! 196