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Zumutbarkeit von längeren Wegzeiten an einzelnen Tagen bei Vier-Tage-Woche

BIRGITSDOUTZ

Der Revisionswerber stellte am 7.7.2020 einen Antrag auf Fortbezug des Arbeitslosengeldes, weil er sein Beschäftigungsverhältnis am 1.7.2020 in der Probezeit gelöst hatte. Mit Bescheid vom 9.7.2020 sprach das Arbeitsmarktservice (AMS) aus, dass der Revisionswerber gem § 11 AlVG für den Zeitraum 2.7. bis 29.7.2020 kein Arbeitslosengeld erhält und es wurde keine Nachsicht erteilt.

In der dagegen eingebrachten Beschwerde brachte der Revisionswerber vor, dass ihm die Wegzeiten zum Arbeitsplatz nicht zumutbar gewesen seien. Das BVwG wies die gegen diesen Bescheid eingebrachte Beschwerde ab. Nach seinen Feststellungen hätte die Arbeitswoche bei einer Dauer des Arbeitstages von zehn Stunden in der Regel vier Tage umfasst. Die Wegzeit habe unabhängig von der Schichteinteilung wochentags für eine Wegstrecke ca 80 Minuten, somit insgesamt 160 Minuten betragen. Samstags sei sie ausgehend von den Beginn- und Endzeiten der Tagschicht insgesamt 30 Minuten länger gewesen, weil eine halbstündige Wartezeit auf den Bus zu berücksichtigen gewesen sei. Das BVwG verneinte vor diesem Hintergrund eine Unzumutbarkeit der Beschäftigung sowie das Vorliegen eine Nachsichtsgrundes iSd § 11 AlVG, erklärte die Revision aber mit der Begründung für zulässig, dass es an Rsp zur Frage fehle, ob auch eine nur an einem Arbeitstag pro Woche wesentlich über der in § 9 Abs 2 AlVG genannten Wegzeit liegende tatsächliche Wegzeit bereits zur Unzumutbarkeit eines Arbeitsverhältnisses führen könne bzw ob es in solchen Fällen einer näheren Prüfung der besonderen Umstände bedürfe oder ob die tägliche Wegzeit bei schwankenden Zeiten – wie vom AMS angenommen – auf alle Arbeitstage der Arbeitswoche durchzurechnen sei.

Der VwGH wies die Revision als unbegründet ab. Die zumutbare tägliche Wegzeit bei einer Vollzeitbeschäftigung beträgt gem § 9 Abs 2 AlVG jedenfalls zwei Stunden. Dies entspricht einem Viertel einer täglichen Normalarbeitszeit von acht Stunden pro Arbeitstag (§ 3 Abs 1 AZG). Daraus kann aber in Anbetracht des eindeutigen Wortlautes des § 9 Abs 2 AlVG nicht der Schluss gezogen werden, dass im Fall einer Normalarbeitszeit von zehn Stunden eine Wegzeit von einem Viertel dieser individuellen Normalarbeitszeit (sohin zweieinhalb Stunden) iSd genannten Gesetzesstelle „jedenfalls“ zumutbar wäre. Die in § 9 Abs 2 AlVG genannte Grenze bei Vollzeitarbeit ist unabhängig von der tatsächlich vorliegenden durchschnittlichen täglichen Arbeitszeit maßgeblich. Dies erscheint auch im Hinblick darauf sachgerecht, dass eine längere Normalarbeitszeit die an dem betreffenden Tag zur Verfügung stehende Freizeit reduziert. Dieser Effekt soll laut VwGH nicht durch als zumutbar erachtete längere Wegzeiten verstärkt werden (VwGH 8.5.2018, Ro 2017/08/003; VwGH 8.5.2018, Ro 2017/08/0034).

Bei einer Vollzeitbeschäftigung liegt nach der Rsp des VwGH eine Wegzeit erst dann „wesentlich“ über der in § 9 Abs 2 AlVG genannten Grenze von „jedenfalls zwei Stunden“ – und sie ist daher erst dann „nur unter besonderen Umständen“ zumutbar –, wenn diese Grenze um etwa 50 % überschritten wird. Ab einer Wegzeit von drei Stunden täglich bedürfte es einer näheren Prüfung, ob derartige besondere Umstände vorliegen, auf Grund derer die festgestellten Wegzeiten ausnahmsweise zumutbar sind. Nicht zumutbar ist die Wegezeit laut VwGH, wenn die jedenfalls zumutbare Wegzeit um 100 % oder mehr überschritten wird, dies auch nicht bei besonderen Umständen. Bei einer Wegzeit von mehr als dem Doppelten von zwei Stunden bei Vollzeitarbeit könnte – von ganz außergewöhnlichen Konstellationen abgesehen (vgl zu so einem Fall VwGH 28.1.2015, 2013/08/0176) – nicht mehr bloß von einem „darüber Liegen“ in Bezug auf die genannte Grenze gesprochen werden (vgl VwGH 8.5.2018, Ro 2017/08/0034).

In der E Ra 2020/08/0031 vom 9.6.2020 hat der VwGH bereits angedeutet, dass bei an einzelnen Arbeitstagen unterschiedlich langer Wegzeit eine wöchentliche Durchschnittsbetrachtung Platz greifen könnte. Demnach können längere Wegzeiten an bestimmten Tagen durch kürzere Wegzeiten an anderen Tagen ausgeglichen werden. Das erscheint gemessen am offenkundigen Zweck der Regelung des § 9 Abs 2 AlVG, einerseits ein angemessenes Verhältnis zwischen Arbeitszeit und Wegzeit herzustellen und andererseits – bei Vollzeitbeschäftigungen – den Beschäftigten ein Mindestmaß an verbleibender Freizeit zu gewährleisten, sachgerecht, solange die Wegzeit an keinem der Arbeitstage regelmäßig ein Ausmaß erreicht, mit dem das Doppelte der „jedenfalls“ zumutbaren Wegzeit überschritten wird. Das bedeutet, dass eine Beschäftigung unzumutbar ist, wenn die Wegzeit auch nur an einzelnen Arbeitstagen – etwa an bestimmten Wochentagen oder bei einer bestimmten Lage der Schicht (aber nicht nur in Ausnahmekonstellationen) – mehr als das Doppelte der iSd § 9 Abs 2 AlVG „jedenfalls“ zumutbaren Wegzeit beträgt. Ist das nicht der Fall, so ist bei unterschiedlich langen Wegzeiten tunlichst ein Wochenschnitt (bzw allenfalls – bei Unterschieden in den einzelnen Wochen – ein Monatsschnitt) zu bilden. Ergibt sich daraus ein Durchschnittswert, dass die zumutbare 305Wegzeit um weniger als 50 % überschritten wird, so ist im Allgemeinen ohne nähere Prüfung von einer Zumutbarkeit der Beschäftigung auszugehen. Erreicht der Durchschnittswert die genannte Grenze, so ist von einer wesentlichen Wegzeitüberschreitung auszugehen, die nur unter den in § 9 Abs 2 AlVG angesprochenen besonderen Umständen zumutbar ist. Ist die Rechtfertigung einer wesentlichen Wegzeitüberschreitung in besonders günstigen Arbeitsbedingungen zu suchen, so kann in die Beurteilung auch einfließen, dass der Arbeitsweg an weniger als den üblichen fünf Arbeitstagen pro Woche zurückzulegen ist. Umgekehrt führen längere (über die typische Normalarbeitszeit von acht Stunden hinausgehende) tägliche Arbeitszeiten (wie sie mit einer verkürzten Arbeitswoche regelmäßig einhergehen) entgegen der Ansicht des Revisionswerbers nicht dazu, dass stets schon eine weniger als 50 %-ige Überschreitung der jedenfalls zumutbaren Wegzeit nur unter besonderen Umständen zulässig wäre.

Da im vorliegenden Fall die tägliche Wegzeit im Wochenschnitt letztlich unstrittig 167,5 Minuten betrug, war diese gem § 9 Abs 2 AlVG zumutbar, weil die jedenfalls zumutbare Wegzeit von zwei Stunden (120 Minuten) damit um weniger als 50 %, also nicht „wesentlich“ iSd genannten Bestimmung, überschritten wurde. Die Wegzeit stellte demnach keinen Grund für eine Nachsicht von der an die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses durch den Revisionswerber in der Probezeit geknüpfte Rechtsfolge des § 11 Abs 1 AlVG dar.

Im Übrigen ist auch im Anwendungsbereich des § 11 AlVG die Unzumutbarkeit einer Beschäftigung im Allgemeinen nicht anzunehmen, wenn davon ausgegangen werden kann, dass durch eine Anpassung der Arbeitsbedingungen eine Herstellung der Zumutbarkeit herbeigeführt werden hätte können. So wäre es im Revisionsfall etwa naheliegend gewesen, um eine Lagerung der samstäglichen Arbeitszeit zu ersuchen, mit der die Wartezeit auf den Bus vermieden wird, oder nach einer (allenfalls vom AG) Mitfahrgelegenheit zu fragen.