147Keine Berücksichtigung einer geringfügigen Beschäftigung für Tätigkeitschutz gem § 255 Abs 4 ASVG
Keine Berücksichtigung einer geringfügigen Beschäftigung für Tätigkeitschutz gem § 255 Abs 4 ASVG
Auch im Anwendungsbereich des § 255 Abs 4 ASVG können Beitragsmonate der freiwilligen Versicherung (hier: der Selbstversicherung gem § 19a ASVG), die nicht die Pflichtversicherung nach dem ASVG begründen, nicht als Monate gewertet werden, in denen die versicherte Person eine „Tätigkeit“ iSd § 255 Abs 4 Satz 1 ASVG ausgeübt hat.
Der 1960 geborene Kl hat den Beruf eines Elektroinstallateurs gelernt, aber keine Lehrabschlussprüfung abgelegt. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag war er als Elektrotechniker-Servicetechniker für Alarmanlagen tätig und erwarb 96 Beitragsmonate. Aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen ist er nicht mehr in der Lage, diesen Beruf auszuüben. Es kann aber auf den Beruf des Prüffeldtechnikers verwiesen werden.
Den Antrag des Kl auf Berufsunfähigkeitspension lehnte die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) mit Bescheid ab. In seiner dagegen erhobenen Klage brachte der Kl vor, er genieße neben dem Berufsschutz auch „Tätigkeitsschutz“ iSd § 255 Abs 4 ASVG, da er in den letzten 180 Monaten über 120 Monate als Elektrotechniker tätig war. Dazu zählt auch eine geringfügige Tätigkeit mit gleichzeitiger Selbstversicherung nach § 19a ASVG. Die PVA hielt dem entgegen, dass es sich dabei nicht um Beitragsmonate handle und sie daher auch nicht für die Feststellung des Tätigkeitsschutzes herangezogen werden können.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge. Zeiten der Selbstversicherung nach § 19a ASVG seien nicht in Zeiten einer Tätigkeit iSd § 255 Abs 4 ASVG einzurechnen, weil keine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt werde.
Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Kl, mit der er die Stattgebung der Klage beantragte. Die Revision ist zulässig, aber nicht berechtigt.
„1. Der Kläger behauptet in der Revision nur mehr das Vorliegen von Berufsunfähigkeit gemäß § 273 Abs 3 iVm § 255 Abs 4 ASVG. […]
2.3 Bei § 255 Abs 4 ASVG handelt es sich – wie dies auch aus den zitierten Gesetzesmaterialien hervorgeht – nicht um einen Arbeitsplatzschutz, sondern um eine – besondere – Form des Berufsschutzes (zuletzt 10 ObS 40/22p Rz 18 mwH). § 255 Abs 4 ASVG stellt nicht auf die Anforderungen an einem bestimmten Arbeitsplatz ab, sondern auf die „Tätigkeit“ mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt (RS0087658 [T2]; RS0087659 [T9]). […]308
2.4.4 Aus der historischen Betrachtung der geltenden Bestimmung zeigt sich, dass für den Erwerb des besonderen Verweisungsschutzes nach § 255 Abs 4 ASVG aF und § 253d ASVG aF immer der Erwerb von Versicherungs- und Beitragsmonaten erforderlich war. Den Begriff der Kalendermonate verwendete der Gesetzgeber neben dem Begriff der Beitragsmonate der Pflichtversicherung in § 253d Abs 1 Z 2 ASVG aF.
3.1 In Lehre und Schrifttum wird ausgeführt, dass der Begriff der Kalendermonate in § 255 Abs 4 ASVG nicht irrtümlich gewählt worden und eigentlich Beitragsmonate gemeint gewesen seien. Ganz bewusst habe der Gesetzgeber diese Voraussetzung gewählt […].
3.2 Dem istSchrammel (Der Invaliditäts-, Berufsunfähigkeits- und Erwerbsunfähigkeitsbegriff nach dem SVÄG 2000, ecolex 2000, 886 [888]) entgegengetreten und hat darauf hingewiesen, dass nach der Neuregelung nicht mehr die Beitragsmonate in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag entscheidend seien, sondern das Ausüben einer Tätigkeit. […]
3.3 Überwiegend wird vertreten, dass eine wirksame Beitragsentrichtung nicht Voraussetzung dafür sei, dass die Monate der Ausübung einer Tätigkeit berücksichtigt werden. Maßgeblich sei jedoch, dass es sich um eine versicherungspflichtige Beschäftigung handle. Es reiche nicht aus, dass die eine Tätigkeit zuvor außerhalb der Versicherungspflicht ausgeübt worden sei, weil im gesamten Sozialversicherungsrecht, insbesondere in der Pensionsversicherung, maßgeblich auf das Vorliegen von Versicherungszeiten abgestellt werde. […]
5.1 Die Selbstversicherung nach dem ASVG ist eine freiwillige Versicherung (§§ 16 ff ASVG). Die freiwillige Versicherung stellt eine Ergänzung zur Pflichtversicherung dar, um Lücken zu schließen oder das Leistungsausmaß zu erhöhen. […] § 19a ASVG ermöglicht unter den dort genannten Voraussetzungen die Selbstversicherung in der Pensionsversicherung bei geringfügiger Beschäftigung. […]
5.4.1 Nach der Rechtsprechung sind Beitragsmonate der freiwilligen Versicherung (hier: Zeiten einer Selbstversicherung bei geringfügiger Beschäftigung gemäß § 19a ASVG) zwar bei der Feststellung, ob ein Beruf überwiegend ausgeübt wurde, mitzuberücksichtigen, sie können aber nicht als Beitragsmonate gewertet werden, in denen eine (die Pflichtversicherung nach dem ASVG begründende) Tätigkeit ausgeübt wurde, und zwar gleichgültig, ob eine und allenfalls welche Tätigkeit in dieser Zeit tatsächlich ausgeübt wurde. Zeiten einer freiwilligen Versicherung können daher nicht als Zeiten einer Berufsausübung in einem erlernten oder angelernten Beruf gewertet werden, weil während einer freiwilligen Versicherung überhaupt kein versicherungspflichtiger Beruf ausgeübt wird; daran ändert auch eine geringfügige Beschäftigung im betreffenden Beruf nichts (10 ObS 418/02x SSV-NF 17/27 mwH; RS0085116 mwH;Pfeil in SV-Komm [216. Lfg] § 19a ASVG Rz 3). […]
5.4.3 Auch zu § 255 Abs 2 ASVG idF des BBG 2011, BGBl I 2010/111, führte der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 85/14v SSV-NF 28/49 aus, dass Zeiten einer freiwilligen Versicherung – daher auch Zeiten einer Selbstversicherung gemäß § 19a ASVG – bereits aufgrund des Gesetzeswortlauts nicht als Zeiten der Ausübung einer qualifizierten Tätigkeit zu berücksichtigen seien (Pkt 1.4; Födermayr in SV-Komm [252. Lfg] § 255 ASVG Rz 118). In dieser Entscheidung wies der Oberste Gerichtshof zwar auf die Unterschiedlichkeit der Bestimmungen des § 255 Abs 2 und Abs 4 ASVG hin (Pkt 4.5), dies allerdings nur vor dem Hintergrund der vorrangig zu beurteilenden Rechtsfrage der Dauer eines Versicherungsmonats nach § 232 Abs 1 ASVG, die von der Frage der tatsächlichen Ausübung einer Tätigkeit im Sinn des § 255 Abs 4 ASVG zu unterscheiden sei.
6.1 Der Revisionswerber bezieht sich mit seinem Standpunkt, es genüge, im Wege der Selbstversicherung gemäß § 19a ASVG in das Sozialversicherungssystem „integriert“ zu sein, erkennbar auf den die zitierten Entscheidungen 10 ObS 42/07k und 10 ObS 99/14b umfassenden Rechtssatz RS0122171 (s dazu oben Pkt 4.5). […]
6.3 Dem Argument des Revisionswerbers, dass § 255 Abs 4 ASVG – anders als § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG („Pflichtversicherungsmonate“), § 255 Abs 3a Z 3 ASVG („Versicherungsmonate“, „Beitragsmonate“) oder § 255 Abs 7 ASVG („Beitragsmonate“) – lediglich von der Ausübung einer „Tätigkeit“ spricht, ist die bereits zitierte Rechtsprechung (insbesondere 10 ObS 44/21z; 10 ObS 116/22i) entgegenzuhalten, wonach § 255 ASVG in seiner Gesamtheit das System des Zugangs zu einer Pensionsleistung aus der Verminderung der Arbeitsfähigkeit in Form von Ausbildungs- und altersabhängigen Konstellationen regelt. […] Wäre tatsächlich lediglich die Ausübung einer „Tätigkeit“ im Sinn der Argumentation des Revisionswerbers Voraussetzung für den Erwerb des besonderen Berufsschutzes nach § 255 Abs 4 ASVG, so genügte allein deren Ausübung in geringfügigem Umfang, weil der Abschluss einer Selbstversicherung gemäß § 19a ASVG ja freiwillig erfolgt. In einem solchen Fall fehlte jedoch jegliche Einbindung in das System der Pensionsversicherung.
6.4 Auch im Anwendungsbereich des § 255 Abs 4 ASVG ist daher an der oben dargestellten Rechtsprechung zu § 255 Abs 2 ASVG festzuhalten, wonach Beitragsmonate der freiwilligen Versicherung (hier: der Selbstversicherung gemäß § 19a ASVG), die nicht die Pflichtversicherung nach dem ASVG begründen, nicht als Monate gewertet werden können, in denen die versicherte Person eine „Tätigkeit“ im Sinn des § 255 Abs 4 Satz 1 ASVG ausgeübt hat.
7. Für den vorliegenden Fall folgt daraus, dass die vom Kläger erworbenen Beitragsmonate der freiwilligen Versicherung zwischen dem 6.8.2015 und dem 31.12.2019 nicht nach § 255 Abs 4 Satz 1 ASVG zu berücksichtigen sind, weil der Kläger in diesen Monaten keine eine Pflichtversicherung nach dem 309ASVG (GSVG, BSVG) begründende Tätigkeit ausübte. Der in diesem Zusammenhang behauptete Mangel des Berufungsverfahrens liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).
Der OGH hat sich im gegenständlichen Fall mit der Frage auseinandergesetzt, welche Qualität ein Monat haben muss, um für die Beurteilung des Tätigkeitsschutzes nach § 255 Abs 4 ASVG herangezogen zu werden.
Die vorliegende E bietet eine gute Zusammenfassung sowohl der verschiedenen Lehrmeinungen zu den Begrifflichkeiten des § 255 Abs 4 ASVG als auch zur bisherigen umfassenden Rsp des OGH zur Qualifikation von Beitrags- und Versicherungsmonaten im Zusammenhang mit pensionsversicherungsrechtlichen Ansprüchen insb iZm § 255 Abs 2 ASVG.
§ 255 Abs 4 ASVG normiert einen über den regulären Berufsschutz hinausgehenden Verweisungsschutz für ältere AN (ab Vollendung des 60. Lebensjahres). Wenn Versicherte in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag zumindest 120 Kalendermonate hindurch eine Tätigkeit ausgeübt haben, dürfen sie nur mehr auf diese verwiesen werden, wobei zumutbare Änderungen zu berücksichtigen sind.
Mit der vorliegenden E ist nun klargestellt, dass Zeiten einer geringfügigen Beschäftigung auch bei Vorliegen einer freiwilligen Selbstversicherung nach § 19a ASVG nicht zu diesen relevanten Kalendermonaten hinzuzurechnen sind, da es sich nicht um Zeiten einer versicherungspflichtigen Beschäftigung handelt. Der OGH hält damit im Ergebnis auch im Anwendungsbereich des § 255 Abs 4 ASVG an seiner Rsp zu § 255 Abs 2 ASVG fest.