149

Kostenerstattung für medizinische Behandlungen mit Ig VENA im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation

STEPHANIEPRINZINGER

Ein Anspruch auf Kostenerstattung scheidet nicht bloß deswegen aus, weil eine Behandlung in einem zeitlichen oder ursächlichen Zusammenhang mit einer In-vitro-Fertilisation steht. Ein Kostenersatz ist vielmehr nur ausgeschlossen, soweit damit kein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand beeinflusst wird. Die Behandlungen mit Ig VENA beeinflussen jedoch den regelwidrigen Körperzustand. Vom IVF-Fonds-Gesetz sind nur jene Kosten einer In-vitro-Fertilisation erfasst, die nicht als Krankenversicherungsleistung erstattungsfähig sind, weil dadurch ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand nicht beeinflusst wird.313

SACHVERHALT

Nach insgesamt vier fehlgeschlagenen Versuchen einer In-vitro-Fertilisation wurde der Kl Ig VENA verordnet. Bei der Kl lagen eine primäre Sterilität, eine latente humorale, isoliert das Mannose bindende Lectin (MBL) betreffende, primäres Immundefizit sowie eine autoimmune Hyperthyreose vor, weiters hinsichtlich einer möglichen Schwangerschaft die Neigung zu habituellem Abort.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Mit Bescheid vom 26.7.2019 lehnte die bekl Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) den Antrag der Kl vom 16.5.2019 auf Erstattung der Kosten für die Behandlung mit dem Präparat Ig VENA im Zeitraum Jänner bis Mai 2019 ab.

Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrte die Kl die Erstattung des Kostenbetrags von insgesamt € 5.448,-. Das Erstgericht wies die Klage ab. Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil dahingehend ab, dass die Bekl zur Erstattung der Kosten der Behandlung mit dem Medikament Ig VENA im Ausmaß von insgesamt € 2.357,88 verpflichtete.

Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht zu. Dagegen richtet sich die Revision der Bekl mit dem Antrag auf Wiederherstellung des Ersturteils. Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…]

2.1. In der Rechtsrüge steht die Beklagte auf dem Standpunkt, dass eine In-vitro-Fertilisation keine Krankenbehandlung iSd § 133 ASVG darstelle und die vorliegende Behandlung eine Vorbereitungshandlung zur anschließenden In-Vitro-Fertilisation gewesen sei. Das werde nicht nur aus dem zeitlichen Ablauf deutlich (Verabreichung von Ig VENA zum Embryotransfer am 10. Jänner 2019), sondern auch daraus, dass eine isolierte Gabe von Ig VENA, also ohne In-vitro-Fertilisation, um damit auf natürlichem Wege eine Empfängnis und eine nachfolgende Schwangerschaft zu bewirken, bei der Klägerin weder angezeigt noch ratsam gewesen wäre.

2.2.1. Voraussetzung für einen Anspruch aus der Krankenversicherung ist der Eintritt des Versicherungsfalls. Das ist im Versicherungsfall der Krankheit ihr Beginn; Krankheit definiert das Gesetz dabei als regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand, der die Krankenbehandlung notwendig macht (§ 120 Z 1 ASVG), durch die wiederum nach § 133 Abs 2 ASVG die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wiederhergestellt, gefestigt oder gebessert werden sollen. Eine notwendige Krankenbehandlung und damit eine Krankheit in sozialversicherungsrechtlichem Sinn ist nach der Rechtsprechung auch dann anzunehmen, wenn die Behandlung geeignet erscheint, eine Verschlechterung des Zustandsbildes hintanzuhalten (RS0106403). Eine notwendige Krankenbehandlung muss daher nicht die endgültige und vollständige Heilung des Patienten zum Ziel haben; es genügt vielmehr, wenn sie die Besserung des Leidens oder die Verhütung von Verschlimmerungen bezweckt (RS0106245 [T1]).

2.2.2. Ausgehend davon wurde in der (älteren) Rechtsprechung ein Kostenerstattungsanspruch für die Vornahme einer extrakorporalen Fertilisation (In-vitro-Fertilisation) verneint: Der regelwidrige Körperzustand einer sterilen Frau bestehe nicht im Fehlen einer Schwangerschaft, sondern in der Unfähigkeit zur Empfängnis. Die Behandlung mit dem Zweck der Behebung des medizinischen Konzeptionshindernisses müsse grundsätzlich als Krankenbehandlung im Sinne der Sozialversicherungsgesetze betrachtet werden, was freilich voraussetze, dass es mit begründeter Aussicht auf Erfolg im Sinne einer Wiederherstellung der Konzeptions- bzw Zeugungsfähigkeit behandelbar sei. Der regelwidrige Körperzustand werde durch die In-vitro-Fertilisation aber nicht beeinflusst. Insbesondere würde sich der Gesundheitszustand der Betroffenen – anders als bei der Behandlung eines Zuckerkranken mit Insulin, bei einer Dialysebehandlung bei Niereninsuffizienz, bei Anwendung von Brillen, orthopädischen Schuheinlagen oder Bruchbändern – auch ohne die außerkörperliche Befruchtung nicht verschlechtern (10 ObS 247/98s; 10 ObS 193/98z SSV-NF 12/153; vgl auch 10 ObS 115/98d SSV-NF 12/82 [Vorliegen psychischer Probleme infolge auf Zeugungsunfähigkeit des Gatten zurückgehender Kinderlosigkeit] und 10 ObS 2371/96s SSV-NF 11/2 [von der Betroffenen geltend gemachte Kosten für Fertilisationsmaßnahme als Behandlung des zeugungsunfähigen Mannes]).

2.2.3. Daraus kann aber – entgegen der von der Beklagten in der Revision vertretenen Rechtsauffassung – nicht geschlossen werden, dass ein Anspruch auf Kostenerstattung bloß deswegen ausscheidet, weil eine Behandlung in einem (zeitlichen oder ursächlichen) Zusammenhang mit einer In-vitro-Fertilisation steht. Ein Kostenersatz ist in diesen Fällen vielmehr nur ausgeschlossen, soweit damit kein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand beeinflusst wird.

2.2.4. Daran ändert auch das IVF-Fonds-Gesetz nichts, das zwar (unter bestimmten Voraussetzungen) einen Anspruch auf Tragung (von 70 %) der Kosten einer In-vitro-Fertilisation durch den IVF-Fonds regelt. Dieser Anspruch soll erkennbar der Überbrückung einer Deckungslücke in der Krankenversicherung dienen, ging der Gesetzgeber doch davon aus, dass für eine In-vitro-Fertilisation kein Anspruch auf Kostenerstattung aus der Krankenversicherung bestehe (AB 2010 BlgNR 20. GP 2). Dabei legte er der Regelung allerdings die zitierte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zugrunde, sodass daraus kein genereller, über diese Rechtsprechung hinausgehender Ausschluss eines Kostener314satzes abgeleitet werden kann. Vom IVF-Fonds-Gesetz sind vielmehr – entsprechend der zitierten Rechtsprechung – nur jene Kosten einer In-vitro-Fertilisation erfasst, die nicht als Krankenversicherungsleistung erstattungsfähig sind, weil dadurch ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand nicht beeinflusst wird.

2.3. Die vorliegenden Behandlungen beeinflussten jedoch einen regelwidrigen Körperzustand der Klägerin.

2.3.1. Nach dem vom Berufungsgericht angenommenen Sachverhalt bestand bei der Klägerin (ua) eine immunologische Abweichung, aufgrund derer die Klägerin hinsichtlich einer möglichen Schwangerschaft die Neigung zu habituellem Abort aufwies. Dass (auch) dies ein regelwidriger Körperzustand ist, wird von der Beklagten in der Revision zu Recht nicht in Frage gestellt.

2.3.2. Das Berufungsgericht ging auf Tatsachenebene weiters davon aus, dass sämtliche gegenständlichen Behandlungen den Zweck hatten, eine Abstoßung des Embryos infolge dieses regelwidrigen Körperzustands der Klägerin zu verhindern. Dies steht im Einklang mit der (weiteren) Feststellung, nach der bei der Klägerin eine erhöhte Anzahl von uterinen natürlichen Killerzellen festgestellt wurde, und der ebenso festgestellten Studienlage, wonach die Behandlung eine immunmodulierende Funktion hat und die Aktivität der uterinen natürlichen Killerzellen in der Gebärmutterschleimhaut abschwächt. Die Behandlung wirkte somit unmittelbar auf den regelwidrigen Körperzustand ein, indem sie die Auswirkungen der immunologischen Abweichungen der Klägerin milderte und der Neigung zum habituellen Abort entgegenwirkte. Die von der zitierten Rechtsprechung bei einer extrakorporalen Befruchtung vermisste Beeinflussung des regelwidrigen Körperzustands ist hier also zu bejahen. Soweit die Revision der Behandlung andere Zwecke oder Wirkungen (Verhinderung eines Einnistungsversagens und Verhinderung von bzw Vorbeugung vor Infekten) zugrunde legt, geht sie nicht vom festgestellten Sachverhalt aus.

2.3.3. Entgegen der in der Revision vertretenen Rechtsauffassung kommt es dabei auch nicht darauf an, ob bei Beginn der Behandlung bzw bei der ersten Behandlung bereits ein positiver Schwangerschaftstest oder überhaupt eine Schwangerschaft vorlag, ist damit doch nicht gesagt, dass diese Behandlung nicht gleichermaßen dem Zweck dienen hätte können, einen späteren Abort zu verhindern. Tatsächlich erfolgte die erste Behandlung der Klägerin aber ohnedies – auch nach dem von der Beklagten für die Begründung ihrer Rechtsansicht ins Treffen geführten Sachverständigengutachten – erst nach dem Embryotransfer.

2.4. Die weitere Beurteilung des Berufungsgerichts, nach dem die vorliegende Behandlung einer zweckmäßigen Krankenbehandlung entsprochen habe und das Maß des Notwendigen nicht überschritten habe, weil eine zumutbare erfolgversprechende Behandlung nach wissenschaftlich anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst nicht zur Verfügung gestanden sei, während die hier vorliegende Außenseitermethode bei der Klägerin erfolgreich gewesen sei (vgl dazu RS0102470 [T6]), zieht die Beklagte in der Revision nicht in Zweifel.

3.1. Die Bejahung des Anspruchs der Klägerin auf Erstattung der geltend gemachten und in ihrer Höhe unstrittigen Kosten durch das Berufungsgericht erfolgte somit frei von Rechtsirrtum. Der Revision war daher nicht Folge zu geben. […]“

ERLÄUTERUNG

Der OGH hat sich in der gegenständlichen E mit dem Thema Anspruch auf Erstattung der Kosten einer Behandlung mit dem Medikament „Ig VENA“ befasst. Dabei handelt es sich um „ein wissenschaftlich anerkanntes und regulatorisch gut positioniertes Präparat, das in Österreich zur Anwendung im Rahmen einer Substitutionsbehandlung bei primären Immunmangelerkrankungen mit eingeschränkter Antikörperproduktion sowie sekundären Immunmangelerkrankungen und zur Immunmodulation bei primärer Immunthrombozytopenie, Erkrankungen des peripheren Nervensystems sowie dem Kawasaki-Syndrom zugelassen ist“. Bei der Kl liegen diese Erkrankungen nicht vor.

Nicht zugelassen ist Ig VENA für Autoimmunerkrankungen und alloreaktive Situationen sowie für die Verbesserung von Fertilität und Schwangerschaftsverlauf. Bei der Kl wurde aber auch „eine latente humorale primäre Immundefizienz Lectin betreffend“ festgestellt, aber auch eine erhöhte Anzahl von uterinen natürlichen Killerzellen. Es existieren wissenschaftliche Studien, die darauf hinweisen, dass eine intravenöse Behandlung mit Ig VENA eine immunmodulierende Funktion hat und die Aktivität der uterinen natürlichen Killerzellen in der Gebärmutterschleimhaut abschwächt. Bei „rekurrentem Implantationsversagen und wiederholtem Abortusgeschehen“ ist die Behandlung mit Ig VENA gängige Praxis. Dennoch hat die Behandlung noch nicht Eingang in die Leitlinien gefunden. Wegen immunologischer Abweichungen war bei der Kl trotz guter Eizellqualität eine Schwangerschaft allein mit In-vitro-Fertilisation nicht zu erzielen und die Behandlung mit Ig VENA medizinisch indiziert und gerechtfertigt. Die Behandlung führte auch zu einer erfolgreichen Schwangerschaft und alternative Behandlungsmethoden bestanden keine.

Das Erstgericht wies die Klage auf Kostenerstattung für die Behandlung mit Ig VENA mit der Begründung ab, dass die In-vitro-Fertilisation keine Krankenbehandlung sei und dies auch für vorbereitende und begleitende Maßnahmen gelte. Die Leiden seien zwar als Krankheit zu qualifizieren, durch die Behandlung mit Ig VENA sei es aber zu keiner Besserung des Gesundheitszustandes gekommen, weshalb „streng genommen bereits die Behandlungsfähigkeit zu verneinen sei“. Auch die Kausalität zur Schwangerschaft wurde in der gegenständlichen E 315in Zweifel gezogen. Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil dahingehend ab, dass die Bekl zur Erstattung eines Teiles der Kosten verpflichtet wurde, da „Grund für die Behandlung mit Ig VENA […] nicht die bei der Kl vorgenommene In-vitro-Fertilisation gewesen [ist], sondern deren immunologische Abweichungen und damit ein regelwidriger Körperzustand“. Die Behandlungen seien auch erfolgreich gewesen.

Die ordentliche Revision wurde zugelassen, weil es zur Frage einer aufgrund eines regelwidrigen Körperzustandes erforderlichen medikamentösen Behandlung im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation noch keine höchstgerichtliche Rsp gibt.

In der älteren Rsp wurde ein Kostenerstattungsanspruch für die Vornahme einer extrakorporalen Fertilisation verneint. Der OGH begründete dies damit, „dass der regelwidrige Körperzustand einer sterilen Frau […] nicht im Fehlen einer Schwangerschaft, sondern in der Unfähigkeit zur Empfängnis“ besteht, der regelwidrige Körperzustand aber durch die In-vitro-Fertilisation nicht beeinflusst werde (zB OGH 28.1.1997, 10 ObS 2371/96s; OGH 23.6.1998, 10 ObS 115/98d). ME zu Recht wurde diese Rsp in der Literatur mehrfach kritisiert (siehe Prinzinger, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung am Beispiel der In-vitro-Fertilisation, DRdA 2015, 467 [470]).

Der OGH spricht in der gegenständlichen E aber aus, dass daraus nicht geschlossen werden könnte, dass „ein Anspruch auf Kostenerstattung bloß deswegen ausscheidet, weil eine Behandlung in einem (zeitlichen oder ursächlichen) Zusammenhang mit einer In-vitro-Fertilisation steht. Ein Kostenersatz ist in diesen Fällen nur ausgeschlossen, soweit damit kein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand beeinflusst wird“. Die gegenständliche Behandlung hat den Zweck, eine Abstoßung des Embryos infolge dieses regelwidrigen Körperzustands der Kl zu verhindern. Die Behandlung wirkte unmittelbar auf den regelwidrigen Körperzustand ein, indem sie die Auswirkungen der immunologischen Abweichungen der Kl milderte und der Neigung zum habituellen Abort entgegenwirkte. Eine Beeinflussung des regelwidrigen Körperzustandes ist demnach zu bejahen. Entgegen der in der Revision vertretenen Auffassung kommt es nicht darauf an, ob bei der ersten Behandlung eine Schwangerschaft bereits vorlag. Der OGH sprach somit in der gegenständlichen E aus, dass die Behandlung mit Ig VENA einer zweckentsprechenden Krankenbehandlung entsprochen habe und das Maß des Notwendigen nicht überschritten wurde, weil eine „anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst nicht zur Verfügung gestanden sei, während die hier vorliegende Außenseitermethode bei der Klägerin erfolgreich gewesen sei […] zumutbare erfolgversprechende Behandlung nach wissenschaftlich“. Ein Rechtsirrtum wurde daher verneint.

Die gegenständliche E ist insofern sehr interessant, als der OGH eine Abgrenzung zwischen der In-vitro-Fertilisation, für die eine Mitfinanzierung nur über den IVF-Fonds nach dem IVF-Fonds-Gesetz als lex specialis in Frage kommt, und dem Anspruch auf Kostenerstattung für eine Krankenbehandlung nach § 133 ASVG getroffen hat.