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Keine Begründung eines Berufsschutzes bei Ausübung einer qualifizierten Tätigkeit nur mit besonderem Entgegenkommen des Dienstgebers

HANS-JÖRGTRETTLER

Auch für die Begründung bzw den Erhalt des Berufsschutzes ist es erforderlich, dass der Versicherte, ausgehend von seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit (zum Zeitpunkt der Aufnahme dieser Tätigkeit), vorerst in der Lage gewesen sein muss, die in Frage stehende Tätigkeit zu verrichten.

Sachverhalt

Der 1962 geborene Kl leidet seit dem Jahr 1977 an funktioneller Einäugigkeit. Bei Eintritt ins Erwerbsleben (im Jahr 1978) waren bei ihm deswegen Arbeiten auf Leitern, Gerüsten und in exponierten Lagen zu vermeiden.

Er schloss eine Lehre als Dachdecker und als Berufskraftfahrer ab. In den letzten 15 Jahren vor seinem Pensionsstichtag hat er 114 Pflichtversicherungsmonate aufgrund einer Erwerbstätigkeit erworben, davon 87 Pflichtversicherungsmonate als LKW- und Fernfahrer und zumindest sieben als Dachdecker.

Verfahren und Entscheidung

Der Antrag des Kl auf Zuerkennung einer Invaliditätspension wurde von der Bekl mit Bescheid abgelehnt. Das Erstgericht sprach aus, dass das auf Gewährung der Invaliditätspension, in eventu auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation gerichtete Klagebegehren dem Grunde nach zu Recht bestehe, da der Kl nicht mehr in der Lage sei, in seinen erlernten Berufen zu arbeiten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl Folge und wies das Klagebegehren mit der Begründung ab, dass es auch für die Begründung bzw den 316Erhalt des Berufsschutzes erforderlich sei, dass der Versicherte, ausgehend von seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit (zum Zeitpunkt der Aufnahme dieser Tätigkeit), vorerst in der Lage gewesen sein müsse, die in Frage stehende Tätigkeit zu verrichten. Da der Kl aufgrund der eingebrachten funktionellen Einäugigkeit seit Eintritt ins Erwerbsleben Arbeiten auf Leitern, Gerüsten und in exponierten Lagen vermeiden hätte müssen, sei er somit aufgrund seiner eingeschränkten körperlichen Fähigkeit von Beginn seines Erwerbslebens an nicht in der Lage gewesen, die Tätigkeit als Dachdecker zu verrichten, und auf ein entsprechendes Entgegenkommen seines DG oder seiner Arbeitskollegen angewiesen gewesen. Das Berufungsgericht folgerte daraus, dass eine Tätigkeit in diesem erlernten Beruf daher keinen Berufsschutz begründen habe können. Ein Berufsschutz als Berufskraftfahrer scheitere hingegen bereits an der Voraussetzung der erforderlichen Mindestdauer von zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten im Beobachtungszeitraum.

Der OGH wies die außerordentliche Revision des Kl mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zurück.

Originalzitate aus der Entscheidung

„1.1. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kann eine nur mit besonderem Entgegenkommen des Dienstgebers (oder von Arbeitskollegen) mögliche Tätigkeit nicht als eine Tätigkeit in einem erlernten Beruf iSd § 255 Abs 1 ASVG angesehen werden (RS0084447 [T1]). Ein Versicherter, der nicht unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts beschäftigt war, kann daher durch diese Tätigkeit weder einen Berufsschutz erwerben noch einen bereits bestandenen Berufsschutz erhalten (10 ObS 85/08k SSV-NF 22/50; 10 ObS 143/92 SSV-NF 6/73; RS0084447 [T2]).

1.2. Auch für die Begründung bzw den Erhalt des Berufsschutzes ist es somit erforderlich, dass der Versicherte, ausgehend von seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit (zum Zeitpunkt der Aufnahme dieser Tätigkeit), vorerst in der Lage gewesen sein muss, die in Frage stehende Tätigkeit zu verrichten, und dass durch eine nachfolgende Entwicklung nach Aufnahme dieser Tätigkeit die ursprüngliche Leistungsfähigkeit so weit verschlechtert wurde, dass nunmehr eine Tätigkeit in dem durch den Berufsschutz begründeten Verweisungsfeld nicht mehr möglich ist (RS0084829 [T24]; RS0085107 [T15]). […]

3. Der Vorwurf des Klägers, die Beklagte habe mit ihrem erstmals in der Berufung enthaltenen Hinweis, dass dem Kläger kein Berufsschutz zukomme, gegen das Neuerungsverbot verstoßen, sodass das Berufungsgericht vom Vorliegen eines Berufsschutzes auszugehen gehabt habe, ist ebenfalls unberechtigt:

3.1. Das Neuerungsverbot betrifft nur den Tatsachenbereich (RS0041965 [T1]) und bezieht sich nicht auf Rechtsfragen (RS0041965 [T7]). Eine Änderung der rechtlichen Argumentation einer Partei bzw die Geltendmachung eines neuen Gesichtspunkts bei der rechtlichen Beurteilung ist auch im Rechtsmittelverfahren zulässig, sofern die hiezu erforderlichen Tatsachen bereits im Verfahren erster Instanz behauptet wurden und nicht etwa – wie bei der Verjährung (§ 1501 ABGB) – eine ausdrückliche Vorschrift besteht, die den Erstrichter hinderte, ohne diesbezügliche Einwendung der Partei auf diese Rechtsfrage einzugehen (RS0016473).

3.2. Bei der Frage, ob der Versicherte Berufsschutz iSd § 255 Abs 1 ASVG genießt, handelt es sich um eine Rechtsfrage (RS0115065). Auf Tatsachenebene brachte die Beklagte in erster Instanz vor, dass der Kläger die Augenverletzung am linken Auge bereits ins Erwerbsleben eingebracht habe und dieses Leiden bei der rechtlichen Beurteilung des Klagebegehrens nicht berücksichtigt werden könne. Dementsprechend stellte das Erstgericht fest, dass die funktionelle Einäugigkeit vom Kläger in das Erwerbsleben eingebracht wurde und welche Tätigkeiten er aufgrund dieser Einschränkung nicht verrichten konnte. Ein Verstoß gegen das Neuerungsverbot liegt daher nicht vor.“

Erläuterung

Gem § 255 Abs 1 ASVG gilt ein Versicherter als invalid, wenn er überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig war und seine Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in jedem dieser Berufe herabgesunken ist.

Das Wort „herabgesunken“ im § 255 Abs 1 ASVG ist dahin auszulegen, dass die Voraussetzungen dieser Gesetzesstelle nur dann vorliegen, wenn in den Umständen, die für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit maßgeblich sind, gegenüber einem früheren Zustand eine Verschlechterung eingetreten ist. Anspruch auf eine Invaliditätspension besteht daher nur dann, wenn eine Person ursprünglich in der Lage war, eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, und zufolge einer negativen Veränderung des körperlichen oder geistigen Zustandes außerstande gesetzt wird, nunmehr einer geregelten Beschäftigung, zu der sie früher in der Lage war, nachzugehen. Wird eine Person, die – gemessen an den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes – außerstande ist, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen, aus Entgegenkommen und mit besonderer Nachsicht des DG gegen Entgelt beschäftigt, so wird sie zweifellos in die Pflichtversicherung einbezogen. Neben sonstigen sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen werden bei entsprechend langer Beschäftigung hieraus Pensionsansprüche aus dem Versicherungsfall des Alters resultieren. Der Ver317sicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit hat jedoch zur Voraussetzung, dass eine zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit, die zumindest die Hälfte der eines körperlich und geistig gesunden Versicherten erreicht haben müsste, durch nachfolgende Entwicklungen beeinträchtigt wurde.

Der OGH hat bereits in der zum Tätigkeitsschutz nach § 253d ASVG ergangenen E 10 ObS 32/96 (SSV-NF 10/21) darauf hingewiesen, dass nach seiner Judikatur eine nur mit besonderem Entgegenkommen des DG (oder von Arbeitskollegen) mögliche Tätigkeit nicht als eine Tätigkeit in einem erlernten Beruf iSd § 255 Abs 1 ASVG angesehen werden kann. Ein Versicherter, der nicht unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes beschäftigt war, kann daher durch diese Tätigkeit weder einen Berufsschutz erwerben noch einen bereits bestandenen Berufsschutz erhalten (OGH10 ObS 143/92 SSV-NF 6/73). Mit dieser E hat der OGH die in 10 ObS 44/87 (SSV-NF 1/33) für den Anspruch auf eine Pensionsleistung wegen geminderter Arbeitsfähigkeit allgemein aufgestellten Grundsätze auf den Berufsschutz übertragen.

Im gegenständlichen Fall musste der Kl aufgrund der eingebrachten funktionellen Einäugigkeit seit Eintritt ins Erwerbsleben Arbeiten auf Leitern, Gerüsten und in exponierten Lagen vermeiden und war somit aufgrund seiner eingeschränkten körperlichen Fähigkeit von Beginn seines Erwerbslebens an nicht in der Lage, die Tätigkeit als Dachdecker zu verrichten. Eine Tätigkeit in diesem erlernten Beruf hat daher keinen Berufsschutz als Dachdecker begründen können.

Der Kl hat in den letzten 15 Jahren vor seinem Pensionsstichtag zwar 114 Pflichtversicherungsmonate aufgrund einer Erwerbstätigkeit erworben, davon jedoch (nur) 87 „qualifizierte“ Pflichtversicherungsmonate als LKW- und Fernfahrer. Ein Berufsschutz als Berufskraftfahrer scheitert daher an der Voraussetzung der nach § 255 Abs 2 ASVG erforderlichen Mindestdauer von zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten im Beobachtungszeitraum. Der Kl hätte durch den Erwerb von lediglich drei weiteren Pflichtversicherungsmonaten Berufsschutz als Berufskraftfahrer erwerben bzw erhalten können.

Gegen die weitere Beurteilung des Berufungsgerichts, dass kein Fall des § 255 Abs 7 ASVG vorliege, der Kl in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag unter Ausklammerung der Tätigkeit als Dachdecker nicht in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine qualifizierte Erwerbstätigkeit ausgeübt habe und er auf den allgemeinen Arbeitsmarkt iSd § 255 Abs 3 ASVG (konkret: Hilfsarbeitertätigkeiten) verweisbar sei, hat sich die Revision nicht gewendet.