158Vorabentscheidungsersuchen: Ausgleichszulage für nicht-erwerbstätigen Ehegatten einer Wanderarbeitnehmerin?
Vorabentscheidungsersuchen: Ausgleichszulage für nicht-erwerbstätigen Ehegatten einer Wanderarbeitnehmerin?
Ist Art 7 Unionsbürger-RL 2004/38/EG dahin auszulegen, dass ein wirtschaftlich nicht aktiver Unionsbürger keinen Anspruch auf eine Sozialhilfeleistung iSd Unionsbürger-RL hat, wenn er sich im Aufnahmemitgliedstaat länger als drei Monate, aber kürzer als fünf Jahre aufhält und sein Aufenthaltsrecht nur aus seiner Eigenschaft als Ehegatte einer im Aufnahmestaat unselbständig beschäftigten Unionsbürgerin (Wanderarbeitnehmerin) ableitet, aber selbst nicht über ein originäres Aufenthaltsrecht nach Art 7 Abs 1 Buchstabe a, b oder c Unionsbürger-RL verfügt?
Der rumänische Kl ist mit seiner rumänischen Ehefrau und dem Sohn im Sommer 2017 nach Österreich gekommen. Als Grund für die Migration wurde die bessere medizinische Versorgung des Kl in Österreich genannt. Seit über zehn Jahren bezieht 326er eine rumänische Pension in der Höhe von umgerechnet € 50,- netto monatlich. Zuletzt war der Kl arbeitssuchend und bezieht bedarfsorientierte Mindestsicherung. Seine Gattin war vom 3.7.2017 bis 2.4.2020 in Österreich unselbständig erwerbstätig, mit einem Verdienst zwischen € 1.200,- und € 1.500,- netto. Bis 13.7.2020 war sie arbeitslos ohne Bezüge, arbeitete von 14.7. bis 1.10.2020 mit ähnlicher Entlohnung und bezog vom 13.11. bis 20.12.2020 Arbeitslosengeld. Vom 17.12.2020 bis 1.4.2021 war sie geringfügig beschäftigt. Seit 1.7.2021 arbeitet sie wieder beim ersten AG. Der Kl wohnte zunächst mit seiner Gattin und dem Sohn in einer Mietwohnung. Seit Herbst 2020 leben sie getrennt, ein Scheidungsverfahren ist anhängig, aber nicht abgeschlossen. Seit Dezember 2021 kann der Kl die Miete seiner jetzigen Mietwohnung nicht leisten. Ein Beitrag zum Unterhalt seines Kindes ist ihm nicht möglich. Seine Ehefrau leistet ihm keinen Unterhalt aus ihrem Einkommen.
Der Kl beantragte am 6.12.2017 die Gewährung einer Ausgleichszulage zu seiner Pension. Dieser Antrag wurde von der Bekl mit Bescheid vom 28.4.2020 mangels ausreichender Existenzmittel abgelehnt. Dagegen wurde Klage mit der Begründung erhoben, dass die Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts in dem Umstand begründet sei, dass seine Ehegattin unselbständig erwerbstätig sei.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, da das Familieneinkommen zur Sicherung der Existenz der Familie nicht ausreiche und es daher dem Kl an einem rechtmäßigen Aufenthalt im Inland fehle. Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichts und vertrat die Ansicht, dass die Unionsbürger-RL nicht in jedem Fall einen uneingeschränkten Zugang des Ehegatten eines Wander-AN zu den Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaats garantiere. Aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls sei ein Aufenthaltsrecht des Kl als Ehegatte mit einem Anspruch auf Ausgleichszulage zu verneinen, weil dies eine eklatant unangemessene Inanspruchnahme österreichischer Sozialhilfeleistungen bedeuten würde.
Gegen diese Entscheidung erhob der Kl Revision an den OGH. Das Verfahren vor dem OGH wurde bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des EuGH gem § 90a Gerichtsorganisationsgesetz (GOG) ausgesetzt.
„[9] […] Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat die österreichische Ausgleichszulage […] als „beitragsunabhängige Sonderleistung” im Sinn des Art 70 VO (EG) 883/2004 (und nicht als Sozialhilfeleistung im Sinn von „sozialer und medizinischer Fürsorge“) qualifiziert. Die Ausgleichszulage wurde – so wie die deutschen Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II („Hartz IV“) – gemäß Art 70 Abs 2 Buchstabe c VO (EG) 883/2004 in den Katalog in Anhang X dieser Verordnung eingetragen. Nach der Rechtsprechung des EuGH schließt die Einstufung einer Leistung wie der österreichischen Ausgleichszulage als „beitragsunabhängige Sonderleistung“ im Sinn des Art 70 VO (EG) 883/2004 jedoch nicht aus, dass diese Leistung gleichzeitig auch unter den Begriff der Sozialleistungen im Sinn der Unionsbürger-RL fallen kann, sodass deren Art 24 zur Anwendung kommt […].
[10] 2. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu sein. Jeder Unionsbürger kann sich daher in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art 18 AEUV) berufen, das auch in Art 4 VO (EG) 883/2004 und in Art 24 Unionsbürger-RL konkretisiert wird. Diese Situationen umfassen etwa die Ausübung des von Art 21 AEUV gewährten Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, vorbehaltlich der Beschränkungen und Bedingungen, die ua auch in der Unionsbürger-RL festgelegt sind. Diese Richtlinie hat hinsichtlich des Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat ein abgestuftes System vorgesehen, das im Recht auf Daueraufenthalt mündet […].
[11] 3. Erstens beschränkt Art 6 Unionsbürger-RL für Aufenthalte bis zu drei Monaten die für das Aufenthaltsrecht geltenden Bedingungen oder Formalitäten auf das Erfordernis des Besitzes eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses. Art 14 Abs 1 dieser Richtlinie erhält das Aufenthaltsrecht für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen aufrecht, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen […]. Zweitens ist bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten die Ausübung des Aufenthaltsrechts von den Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 Unionsbürger-RL abhängig, und nach Art 14 Abs 2 dieser Richtlinie steht Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen dieses Recht nur so lange zu, wie sie diese Voraussetzungen erfüllen. Insbesondere dem Erwägungsgrund 10 der Unionsbürger-RL ist zu entnehmen, dass diese Voraussetzungen ua verhindern sollen, dass diese Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen […]. Drittens erwirbt jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig […] fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, ein Daueraufenthaltsrecht, das keinen Bedingungen mehr unterworfen ist […].
[12] 4.1 Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung, die – soweit überblickbar – Fälle des Art 7 Abs 1 Buchstabe b in Verbindung mit Art 2 Z 2 Buchstaben c und d Unionsbürger-RL betrafen, 327stellt sich für den Obersten Gerichtshof die Frage nach der Auslegung des Art 7 Abs 1 iVm Art 2 Z 2 Buchstabe a der Unionsbürger-RL, die dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen ist. In dem noch nicht entschiedenen Verfahren C-488/21 […] geht es zwar ebenfalls um ein von einer Arbeitnehmerin (Art 7 Abs 1 Buchstabe a Unionsbürger-RL) abgeleitetes Aufenthaltsrecht, das allerdings eine Verwandte in gerader aufsteigender Linie (Art 2 Nr 2 Buchstabe d Unionsbürger-RL) geltend macht. In diesem Fall hängt die Eigenschaft als „Familienangehörige“ auch nach dem Wortlaut des Art 2 Nr 2 Buchstabe d Unionsbürger-RL davon ab, dass der Verwandten Unterhalt gewährt wird (bzw sie von der Wanderarbeitnehmerin „abhängig“ ist […].
[13] 4.2 Der Kläger weist zu Recht darauf hin, dass er nach dem Wortlaut der Art 2 Nr 2 Buchstabe a und Art 7 Abs 1 Buchstabe a Unionsbürger-RL als Ehegatte ohne weitere Voraussetzungen – insbesondere auch ohne eine „Abhängigkeit“ im Sinn der tatsächlichen Gewährung von Unterhalt – Familienangehöriger seiner Gattin, die als Wanderarbeitnehmerin in Österreich tätig ist, anzusehen ist […]. Wird dem Kläger die Ausgleichszulage verweigert, so ist seine Ehegattin überdies als Wanderarbeitnehmerin allenfalls schlechter gestellt als eine österreichische Arbeitnehmerin, deren Ehegatte eine Ausgleichszulage beanspruchen kann, was eine Verletzung von Art 7 der Verordnung (EU) Nr 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union bedeuten könnte […].
[14] 4.3 Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass der EuGH in der dargestellten Rechtsprechung unter Berufung auf den Erwägungsgrund 10 der Unionsbürger-RL das Kriterium, wonach Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen sollen, auch für einen Aufenthalt von mehr als drei Monaten bejaht und sich dabei nur allgemein auf die Voraussetzungen des „Art 7 Abs 1 der Unionsbürger-RL“ bezogen hat […]. Die Unionsbürger-RL verfolgt als Hauptziel, die Freizügigkeit der Unionsbürger zu fördern; (nur) zweitrangig daneben verfolgt sie das Ziel des Schutzes des Familienlebens des Unionsbürgers und der Integration seiner Familie im Aufnahmestaat [...]. Auch der Kläger müsste sich eigentlich – nach dem primären Ziel der Unionsbürger-RL – als nichterwerbstätiger Unionsbürger auf ein originäres Aufenthaltsrecht gemäß Art 7 Abs 1 Buchstabe b Unionsbürger-RL stützen: Ein solches unionsrechtliches Aufenthaltsrecht würde jedoch im vorliegenden Fall am unstrittigen Fehlen ausreichender Existenzmittel des Klägers scheitern. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob sich der Kläger in einer solchen Situation auf ein von seiner Ehegattin bloß abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger stützen kann, obwohl es nach den Feststellungen – auch in Bezug auf das gesamte Familieneinkommen – an ausreichenden Existenzmitteln fehlt. Bejahte man dies, käme dem Einwand der Beklagten Berechtigung zu, dass ein Unionsbürger in der Situation des Klägers während des Aufenthalts von über drei bis zu fünf Jahren so gestellt wäre, als hätte er bereits das Recht auf Daueraufenthalt erworben. Dies stünde jedoch nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs in einem Spannungsverhältnis zur dargestellten Rechtsprechung des EuGH, wonach von jedem wandernden Unionsbürger verlangt wird, die Sozialsysteme des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen zu belasten […].“
Die Ausgleichszulage hat den Zweck, Pensionsbezieher*innen ein gewisses Mindesteinkommen sicherzustellen, solange die betroffene Person ihren rechtmäßigen und gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat.
Für den rechtmäßigen Aufenthalt von Unionsbürger*innen ist die Unionsbürger-RL und ihre Umsetzung im österreichischen Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) maßgeblich. Wie in der E übersichtlich herausgearbeitet wird, kann der unionsrechtliche Aufenthalt in drei Phasen gegliedert werden: Aufenthalt bis drei Monate, drei Monate bis fünf Jahre und ab fünf Jahren (Daueraufenthaltsrecht). Liegt das Daueraufenthaltsrecht vor, bedarf es keiner weiteren Voraussetzungen, wie beispielsweise dem Vorliegen ausreichender Existenzmittel oder einer AN-Eigenschaft. Das Daueraufenthaltsrecht erwirbt jeder Unionsbürger, der sich ununterbrochen für fünf Jahre rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat. Art 17 der Unionsbürger-RL normiert noch einzelne Tatbestände, in denen ein zeitlich früherer Erwerb des Daueraufenthaltsrechts möglich ist. Eine deklarative Bescheinigung über das Daueraufenthaltsrecht kann bei der Aufenthaltsbehörde beantragt werden. Vor Erwerb des Daueraufenthaltsrechts ist der rechtmäßige Aufenthalt beispielsweise an eine Erwerbstätigkeit oder dem Vorliegen ausreichender Existenzmittel geknüpft. Der rechtmäßige Aufenthalt kann sich jedoch gem Art 7 Abs 1 lit d Unionsbürger-RL auch von Familienangehörigen (iSd Art 2 Unionsbürger-RL) ableiten, die beispielsweise im jeweiligen Mitgliedstaat einer Erwerbstätigkeit nachgehen.
Bisher hat weder der OGH noch der EuGH zu einem als Ehegatte einer AN abgeleiteten rechtmäßigen Aufenthalt und einen daraus resultierenden Anspruch auf Ausgleichszulage bzw Sozialhilfe iSd Art 24 Unionsbürger-RL entschieden. In der E 10 ObS 31/16f vom 19.7.2016 hat der OGH ausgesprochen, dass Unterhaltszuwendungen durch Angehörige (hier Leistung der erwerbstätigen Kinder an pensionierte Eltern) zwar zu einem rechtmäßigen Aufenthalt nach Art 7 Abs 1 Unionsbürger-RL, aber nicht zu einem Ausgleichszulagenanspruch führen können, weil die Existenzsicherung über die Unterhaltsleistung erfol328gen soll. Dies gilt für die ersten fünf Jahre des rechtmäßigen Aufenthalts. Hierbei wird auf den Erwerb des unionsrechtlichen Daueraufenthaltsrechts referenziert.
Im gegenständlichen Fall spricht der bloße Wortlaut der Unionsbürger-RL für das Vorliegen eines rechtmäßigen Aufenthalts iSd § 292 ASVG des Kl, da Art 2 Z 2 lit a Unionsbürger-RL, neben einer aufrechten Ehe keine zusätzlichen Voraussetzungen, wie die Gewährung von existenzsicherndem Unterhalt, vorsieht. Es wurde festgestellt, dass Unterhaltsleistungen bzw ausreichende Existenzmittel nicht vorliegen. Die E des EuGH wird über den Einzelfall hinaus von großer Bedeutung sein. Auch das beim EuGH anhängige Verfahren C-448/21 (vom 7.9.2022, Banco BPI) könnte eine Wende in der Rsp des OGH hinsichtlich der Ausgleichszulage bei Unterhaltsleistungen durch Familienangehörige in gerader aufsteigender Linie herbeiführen. Im Verfahren 10 ObS 31/16f erfolgte übrigens kein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH.