159Kein Anspruch auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld mangels Zuständigkeit bei Erwerbstätigkeit in Liechtenstein
Kein Anspruch auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld mangels Zuständigkeit bei Erwerbstätigkeit in Liechtenstein
Die Familienbetrachtungsweise spielt schon nach dem Wortlaut des Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 nur bei derAnwendungder Art 67 und 68 VO (EG) 883/2004 eine Rolle. Zur Anwendung der Prioritätsregeln des Art 68 VO (EG) 883/2004 kommt es allerdings nur, wenn für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind. Besteht hingegen in einem der beiden Staaten kein Anspruch auf eine mit dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung, erfolgt die Anknüpfung nach der allgemeinen Regel zur Ermittlung des anzuwendenden Rechts nach Art 11 VO (EG) 883/2004.
Liechtenstein gewährt insgesamt keine dem Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens vergleichbare Leistung.
Im Übrigen führt die in Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 vorgesehene Fiktion bloß dazu, dass der Anspruch auf Familienleistungen – bei Vorliegen der nationalen Anspruchsvoraussetzungen – auch einer Person zusteht, dienichtin dem Mitgliedstaat wohnt, der für die GewährungdieserLeistungen zuständig ist.
Die Kl und Mutter des im September 2021 geborenen Kindes lebt mit dem Kindesvater in einem gemeinsamen Haushalt in Vorarlberg, wo sich auch der Lebensmittelpunkt der Familie befindet. Vor der Geburt war die Kl in Liechtenstein unselbständig beschäftigt, war jedoch aufgrund einer privaten KV von der obligatorischen KV in Liechtenstein befreit. Seit September 2021 bezieht sie in Österreich Familienbeihilfe. Der Gatte und Kindesvater ist seit 2016 in Österreich unselbständig beschäftigt. Die bekl Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) lehnte den Antrag der Kl auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld mit Bescheid ab.
Das Erstgericht gab der Klage gegen den Bescheid dem Grunde nach statt und bestimmte einen vorläufigen Tagsatz. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl Folge und wies die Klage mit der Begründung ab, dass die Anspruchsvoraussetzung der Ausübung einer kranken- und pensionsversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nicht vorliege. Es sprach auch aus, dass Einigkeit über die vorrangige Zuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 bestehe. Der OGH bestätigte das Urteil des Berufungsgerichts und wies die außerordentliche Revision der Kl mangels Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zurück.
„[9] 1.1. Gegenstand eines prozessualen Geständnisses iSd §§ 266, 267 ZPO können nur Tatsachenbehauptungen, nicht aber Rechtsausführungen oder das Bestehen oder Nichtbestehen von Rechtsverhältnissen sein. […]
[10] Vor diesem Hintergrund ist die vorrangige Zuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 keine von der Beklagten zugestandene Tatsache. Zwar ist richtig, dass sich ihr erstinstanzliches Vorbringen hauptsächlich auf § 24 Abs 2 KBGG bezogen hat. Die diesen Ausführungen (implizit) vorgelagerte Einschätzung, Österreich sei aufgrund des Wohnorts des Kindes (primär) leistungszuständig, ist aber ein rechtlicher Schluss, der als solcher kein Gegenstand eines prozessualen Anerkenntnisses sein kann und die Gerichte demgemäß auch nicht bindet. […]
[13] 3. Der Oberste Gerichtshof hat sich erst unlängst in der […] Entscheidung zu 10 ObS 133/22i mit der Koordinierung von Familienleistungen in einem Fall befasst, der mit dem vorliegenden nahezu ident ist. Die auch hier relevanten Fragen wurden dabei wie folgt beantwortet:
[14] 3.1. Zuständig für die Erbringung und damit auch für einen allfälligen Export von Familienleistungen ist jener Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften gemäß Art 11 ff VO (EG) 883/2004 anwendbar sind. Nach Art 11 Abs 1 VO (EG) 883/2004 unterliegen Personen, für die die Verordnung gilt, 329den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Für Personen, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben, sind dies die Rechtsvorschriften dieses Staats und zwar unabhängig davon, wo die Person ihren Wohnsitz hat. Im Fall der Klägerin ist demnach Liechtenstein für die Erbringung und damit auch für einen etwaigen Export nach Art 67 VO (EG) 883/2004 zuständig.
[15] 3.2. Aus Art 68 VO (EG) 883/2004 könnte sich die Anwendbarkeit österreichischer Rechtsvorschriften nur dann ergeben, wenn die Klägerin ihren Anspruch […] von ihrem in Österreich erwerbstätigen Ehegatten ableiten könnte. Das wäre aufgrund der in Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 angeordneten „Familienbetrachtungsweise“ möglich, nach der für die Frage, ob ein Anspruch auf Familienleistungen besteht und in welcher Höhe dieser gebührt, die gesamte Situation der Familie vom zuständigen Träger zu berücksichtigen ist, auch wenn gewisse Sachverhaltselemente (wie etwa Wohnsitz oder Beschäftigungsort) in einem anderen Mitgliedstaat liegen.
[16] 3.3. Die Familienbetrachtungsweise spielt aber schon nach dem Wortlaut des Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 nur bei der Anwendung der Art 67 und 68 VO (EG) 883/2004 eine Rolle. Zur Anwendung der Prioritätsregeln des Art 68 VO (EG) 883/2004 kommt es allerdings nur, wenn für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind. Besteht hingegen in einem der beiden Staaten kein Anspruch auf eine mit dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung, erfolgt die Anknüpfung nach der allgemeinen Regel zur Ermittlung des anzuwendenden Rechts nach Art 11 VO (EG) 883/2004. Der Anspruch ist dann ausschließlich aufgrund der Regelung über die […] Exportpflicht zu prüfen.
[17] 4. Die Leistungszuständigkeit Österreichs hängt daher davon ab, ob in Liechtenstein ein Anspruch auf eine Leistung gleicher Art iSd Art 10 VO (EG) 883/2004 bzw § 6 Abs 3 KBGG besteht. Das ist aber nicht der Fall.
[18] 4.1. Eine nach Art 10 VO (EG) 883/2004 bzw § 6 Abs 3 KBGG vergleichbare Leistung liegt vor, wenn insbesondere eine Übereinstimmung bei Sinn und Zweck, Berechnungsgrundlage und Voraussetzungen für ihre Gewährung gegeben ist. Völlige Gleichheit vor allem bei den Berechnungsgrundlagen und den Voraussetzungen für die Leistungsgewährung ist allerdings nicht erforderlich. Es reicht aus, wenn die Leistungen einander in Funktion und Struktur im Wesentlichen entsprechen (RS0122907).
[19] 4.2. Das liechtensteinische Gesetz über die Familienzulagen (kurz: FZG), sieht in seinem Art 23 nur die Kinderzulage (lit a), Geburtszulage (lit b) und Alleinerziehendenzulage (lit c) als Familienleistungen vor.
[20] Nach Art 3 Abs 1 der Verordnung zum Gesetz über die Familienzulagen […] idgF (kurz: FZV) dienen die (also sämtliche) Familienzulagen als teilweiser Ausgleich der Familienlasten dem wirtschaftlichen Schutz der Familie. Sie stellen keine Entlohnung für geleistete Dienste dar und gehören nicht zum Arbeitslohn. Nach Art 3 Abs 2 FZV sind Kinderzulagen (Art 23 lit a FZG) periodisch ausgerichtete Leistungen, die die zur Gründung und zum Bestand der Familie entstandene finanzielle Belastung in Form von Unterhalts- und Unterstützungspflichten teilweise ausgleichen. Demgegenüber stellt nach Art 3 Abs 3 FZV die Geburtszulage (Art 23 lit b FZG) eine einmalige Leistung dar. Sie bezweckt, die durch die Geburt oder Adoption eines Kindes bedingten finanziellen Aufwendungen teilweise zu decken. Darüber hinaus ergänzt sie die Kinderzulage. Die Alleinerziehendenzulage (Art 23 lit c FZG) wird zusätzlich zur Kinderzulage gewährt, sofern der Bezieher alleinstehend [ist] […].
[21] 4.3. Die Vergleichbarkeit der Geburtszulage mit dem Kinderbetreuungsgeld hat der Oberste Gerichtshof schon wiederholt verneint, weil sie – anders als das österreichische Kinderbetreuungsgeld – eine einmalige Leistung ist, die nach ihrem Schwerpunkt nur die mit der Geburt (für sich allein) verbundenen finanziellen Aufwendungen abdecken soll (RS0122907 [T1]; 10 ObS 108/19h ua).
[22] 4.4. In Bezug auf die Kinderzulage hat der Oberste Gerichtshof zwar eine Vergleichbarkeit mit der Familienbeihilfe, nicht aber mit dem (einkommensabhängigen) Kinderbetreuungsgeld angenommen (10 ObS 173/19t SSV-NF 34/35 ua). Denn das Kinderbetreuungsgeld ist eine fortlaufende Leistung für Elternteile, die sich in der ersten Lebenszeit des Kindes dessen Betreuung widmen, und dazu dienen soll, die Erziehung des Kindes zu vergüten, und gegebenenfalls finanzielle Nachteile, die der Verzicht auf ein (Voll-)Erwerbseinkommen bedeutet, abzumildern […]. Demgegenüber sollen mit der Kinderzulage generell finanzielle Belastungen ausgeglichen werden, die durch Gründung und Bestand einer Familie entstehen. Sie ist demgemäß eine Pauschalleistung (vgl Art 29 FZG) für Kinder, die ausschließlich daran anknüpft, ob der Bezieher seinen Wohnsitz in Liechtenstein hat oder […] in Liechtenstein beschäftigt ist […]. Sie ist daher weder von der gänzlichen oder teilweisen Aufgabe der Erwerbstätigkeit zum Zweck der Kinderbetreuung noch vom finanziellen Status des Empfängers abhängig. Es fehlt daher nicht nur an einer Übereinstimmung in Funktion und Struktur der Leistungen, auch die Anspruchsvoraussetzungen und die Bestimmung ihrer Höhe sind nicht vergleichbar.
[23] 4.5. Da die Alleinerziehendenzulage bloß eine Erhöhung der Kinderzulage für alleinerziehende Elternteile darstellt, gewährt Liechtenstein insgesamt somit keine dem Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens vergleichbare Leistung (so auch 10 ObS 60/19f SSV-NF 34/34). […]
[24] 5. Ausgehend davon besteht für die Umkehr der vorrangigen Zuständigkeit des Beschäftigungsstaats zugunsten des Wohnsitzstaats mangels Zusammentreffens vergleichbarer Leistungen kein Raum. Demgemäß ist Österreich nach der allgemeinen Regel 330des Art 11 VO (EG) 883/2004 auch nicht verpflichtet, der Klägerin einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld zu gewähren […].
[25] 5.1. Im Übrigen führt die in Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 vorgesehene Fiktion bloß dazu, dass der Anspruch auf Familienleistungen – bei Vorliegen der nationalen Anspruchsvoraussetzungen – auch einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist […]. Das ist hier nicht der Fall. Die Familienbetrachtungsweise hätte daher unter den vorliegenden Voraussetzungen nur dann Bedeutung, wenn der Gatte der Klägerin […] einen aus ihrer Beschäftigung in Liechtenstein abgeleiteten Anspruch auf Familienleistungen nach liechtensteinischem Recht geltend machen würde […]. […]“
Der Sachverhalt der vorliegenden E entspricht im Wesentlichen jenem, den der OGH vor Kurzem in 10 ObS 133/22i entschieden hat (für Erläuterungen zur fehlenden Zuständigkeit Österreichs vgl OGH 22.11.2022, 10 ObS 133/22i, DRdA-infas 2023/60). Das aktuelle Urteil wiederholt hinsichtlich der Frage des zuständigen Mitgliedstaats weitgehend die vorhergehende E.
Die Vorfrage, ob es in Liechtenstein mit dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Familienleistungen gibt, wird negativ beantwortet. Hier befasst sich der OGH mit der liechtensteinischen Geburtszulage, Kinderzulage und Alleinerziehendenzulage. Da diese Leistungen jedoch weder denselben Sinn und Zweck wie das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld verfolgen noch deren Berechnungsgrundlage und Voraussetzungen mit der österreichischen Leistung vergleichbar sind, gibt es in Liechtenstein keine vergleichbaren Familienleistungen.
Aufgrund dessen kommt es zu keiner Anwendung der Kollisionsregelung des Art 68 VO 883/2004, weshalb auch die Familienbetrachtungsweise in Art 60 DVO 987/2009 nicht anwendbar ist. Vielmehr ist die Frage des für Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats nach Art 11 VO 883/2004 klar mit Liechtenstein zu beantworten.
Der OGH führt zusätzlich noch aus, dass im vorliegenden Fall selbst bei Anwendung des Art 60 Abs 1 DVO 987/2009 für die Kl nichts zu gewinnen wäre. Dies deshalb, weil die Familienbetrachtungsweise nur dazu führt, dass die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Der OGH führt unter Berufung auf die Rsp des EuGH (18.9.2019, C-32/18, Moser [Rn 44]; 22.10.2015, C-378/14, Trapkowski [Rn 41]) aus, dies bedeute, dass eine Familienleistung – bei Vorliegen der nationalen Anspruchsvoraussetzungen – auch einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist. Im vorliegenden Fall jedoch wohnt die Kl in Österreich und kann auch deswegen die Familienbetrachtungsweise nicht angewandt werden. Relevant könnte diese nur für ihren Ehegatten sein, wenn er – abgeleitet von der Beschäftigung der Kl – eine Familienleistung in Liechtenstein geltend machen würde.
Das Ergebnis – nämlich dass die Kl weder das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld in Österreich noch eine vergleichbare Leistung in Liechtenstein bekommt – ist freilich für die Betroffene keine befriedigende Lösung. Allerdings hat der EuGH bereits mehrfach klargestellt, dass die Inanspruchnahme der Freizügigkeitsrechte auf Grund der unterschiedlichen Sozialsysteme auch zu Nachteilen für die Betroffenen führen kann. Würde die Kl in Liechtenstein keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, wäre nach den Regeln der VO 883/2004 Österreich als Wohnsitzstaat zuständig und könnte sie daher einen Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld in Österreich geltend machen.331