182Klage auf Anerkennung eines Arbeitsunfalls kann nicht erst im Berufungsverfahren um Berufskrankheit ergänzt werden
Klage auf Anerkennung eines Arbeitsunfalls kann nicht erst im Berufungsverfahren um Berufskrankheit ergänzt werden
Im Hinblick auf den in § 176 ZPO verankerten Verfahrensgrundsatz der Mündlichkeit der Verhandlung vor dem erkennenden Gericht kann – sofern nicht eine Sondernorm besteht (zB § 396 ZPO) – in Schriftsätzen enthaltenes Vorbringen nur dann berücksichtigt werden, wenn es in der Verhandlung mündlich vorgetragen wurde […]. Nach der Rsp wird eine in einem Schriftsatz erklärte Klageausdehnung deswegen erst mit dem Vortrag des Schriftsatzes in der mündlichen Verhandlung wirksam […].
[…]
Die Zurückweisung eines nicht gestellten Klagebegehrens beeinträchtigt die Rechtssphäre des Kl nicht […].
Der Kl infizierte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit im April 2021 im beruflichen Umfeld mit Covid-19. Aus dieser Infektion liegen keine gesundheitlichen Schäden oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit über dem 24.4.2021 hinaus vor.
Die Bekl hat mit Bescheid vom 7.6.2022 festgestellt, dass „der Vorfall“ vom April 2021 gem §§ 175 f ASVG nicht als Arbeitsunfall „anerkannt“ werde und „Leistungen gemäß §§ 173 ff ASVG“ nicht gewährt würden.
Im Verfahren vor dem Erstgericht wurde von der Bekl überdies ausgeführt, dass auch die Anerkennung der Infektion als Berufskrankheit ausscheide, da der Kl nicht in einem geschützten Unternehmen iSd Nr 38 der Berufskrankheitenliste tätig gewesen sei. Der Kl hatte ein ergänzendes schriftliches Vorbringen zur Berufskrankheit vorbereitet, dieses wurde mit Zustimmung des Beklagtenvertreters zum Akt genommen und dem Protokoll angeschlossen. Der Beklagtenvertreter replizierte, worauf die Klagevertreterin bestritt.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren, dass das Ereignis vom 24.4.2021 ein Arbeitsunfall sei, ab. Zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung lag keine auf das Ereignis zurückführende Gesundheitsstörung mehr vor. Weiters sei das Unternehmen, in dem der Kl tätig gewesen sei, nicht von der Nr 38 der Berufskrankheitenliste umfasst, daher scheide die Anerkennung als Berufskrankheit aus.
Das Berufungsgericht ließ die Änderung des Klagebegehrens, dass die Infektion eine Berufskrankheit sei, nicht zu, hob das angefochtene Urteil und das im vorangegangenen Verfahren gestellte Eventualbegehren als nichtig auf. Der Berufung des Kl wurde nicht Folge gegeben und die ordentliche Revision nicht zugelassen.
Die dagegen gerichtete außerordentliche Revision wurde mangels Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung vom OGH zurückgewiesen. Der Rekurs und die Rekursbeantwortung wurden ebenso zurückgewiesen.
[…]
[11] I.1. Der Rekurs ist mangels Beschwer unzulässig.
[12] I.2.1. Nach ständiger Rechtsprechung und überwiegender Lehre setzt jedes Rechtsmittel eine Beschwer, also ein Anfechtungsinteresse, voraus, ist es 376doch nicht Sache der Rechtsmittelinstanzen, rein theoretische Fragen zu entscheiden […]. Kann ein Rechtsmittel seinen eigentlichen Zweck, die Rechtswirkungen der bekämpften Entscheidung durch eine Abänderung oder Aufhebung zu verhindern oder zu beseitigen, nicht (mehr) erreichen, fehlt das notwendige Rechtsschutzinteresse. […]
[16] I.3.3. Im Hinblick auf den in § 176 ZPO verankerten Verfahrensgrundsatz der Mündlichkeit der Verhandlung vor dem erkennenden Gericht kann – sofern nicht eine Sondernorm besteht (zB § 396 ZPO) – in Schriftsätzen enthaltenes Vorbringen nur dann berücksichtigt werden, wenn es in der Verhandlung mündlich vorgetragen wurde […]. Nach der Rechtsprechung wird eine in einem Schriftsatz erklärte Klageausdehnung deswegen erst mit dem Vortrag des Schriftsatzes in der mündlichen Verhandlung wirksam. […]
[17] I.3.4. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts erfolgte eine Ausdehnung der Klage (um ein Eventualbegehren) daher gar nicht und wäre über ihre Zulässigkeit folglich auch nicht zu entscheiden gewesen.
[18] I.4. Entgegen der Rechtsansicht des Klägers war der Versicherungsfall der Berufskrankheit auch nicht Gegenstand seiner (ursprünglichen) Klage.
[19] I.4.1. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass im Verfahren vor der Beklagten darüber nicht abgesprochen wurde. Im Spruch des bekämpften Bescheids wurde die geltend gemachte Gesundheitsstörung vielmehr nur dem Versicherungsfall des Arbeitsunfalls zugeordnet.
[20] Dem Kläger ist zwar zuzustimmen, dass auch ausgesprochen wurde, dass Leistungen „gemäß §§ 173 ff ASVG“ nicht gewährt würden. Dieser Teil des Spruchs ist aber völlig unbestimmt […] und betrifft nur Leistungen, nicht jedoch die Frage, ob sich diese auf das Vorliegen (nur) eines Arbeitsunfalls oder (auch) einer Berufskrankheit ergeben. Auch im Zusammenhang mit der […] Begründung des Bescheids ist eine Zuordnung zum Versicherungsfall der Berufskrankheit nicht zu erkennen. […]
[21] I.4.2. Mit seiner Klage begehrte der anwaltlich vertretene Kläger ebenso nur die Anerkennung als Arbeitsunfall und die Gewährung von „Leistungen gemäß §§ 173 ff“. In der Klagserzählung wendete er sich gegen den gegenständlichen Bescheid und thematisierte übereinstimmend damit inhaltlich ausschließlich den Versicherungsfall des Arbeitsunfalls. […]
[23] I.5.1. Aus dem Gesagten ergibt sich somit, dass das Berufungsgericht eine nicht (wirksam) vorgetragene Klageänderung nicht zugelassen und das Urteil bzw das diesem vorangegangenen Verfahren hinsichtlich eines nicht geltend gemachten (auf eine Berufskrankheit bezogenen) Eventualbegehrens als nichtig aufgehoben hat. […]
[25] I.5.3. Der Mangel der Beschwer ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten […] und führt zur Zurückweisung des Rechtsmittels […]. Da der Zivilprozessordnung die Beantwortung eines jedenfalls unzulässigen Rechtsmittels fremd ist […], war auch die Rekursbeantwortung der Beklagten zurückzuweisen.
II. Zur außerordentlichen Revision
[26] II.1. Der Kläger macht in der außerordentlichen Revision geltend, dass nach einer Infektion mit dem Corona-Virus Langzeitschäden bzw bestimmte Dauerfolgen nicht auszuschließen seien und daher ein Arbeitsunfall zu bejahen sei.
[27] II.2. Damit geht er – wie schon in der Berufung – nicht vom festgestellten Sachverhalt aus, nach dem gesundheitliche Schäden, die auf die Infektion zurückzuführen wären, beim Kläger (im maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung erster Instanz) nicht vorliegen. […] Die Rechtsrüge ist daher nicht gesetzmäßig ausgeführt […], sodass es der außerordentlichen Revision schon deswegen nicht gelingt, eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzuzeigen.“
Seine E begründete der OGH anhand von mehreren prozess- und sozialrechtlichen Grundprinzipien.
a) Zur sukzessiven Kompetenz bzw Verfahrensgegenstand
Gem § 67 Abs 1 Z 1 ASGG kann (abgesehen von Säumnisfällen) in der Mehrzahl von Sozialrechtssachen nur eine Klage eingebracht werden, wenn der Versicherungsträger darüber mit Bescheid entschieden hat. Der Inhalt bzw Spruch des Bescheids gibt daher auch den möglichen Rahmen des Gerichtsverfahrens vor. Im gegenständlichen Verfahren wurde im ursprünglichen Bescheid nicht über das Vorliegen einer Berufskrankheit abgesprochen. Zwar wurde im Spruch mit der Wortfolge „Leistungen gemäß §§ 173 ff ASVG“ über alle Leistungen der UV abgesprochen, aber wie vom OGH skizziert, lässt sich daraus nicht ableiten, dass damit auch beide Versicherungsfälle (Arbeitsunfall und Berufskrankheit) gemeint sind. Die Folgen einer Berufskrankheit waren somit kein Verfahrensgegenstand im Verwaltungsverfahren der Bekl und die inhaltliche Behandlung durch das Erstgericht war daher schon aus diesem Grund fehlerhaft.
b) Zum Mündlichkeitsprinzip
In der Zivilprozessordnung und daher auch in Sozialrechtsverfahren gilt bis auf wenige Ausnahmen ein strenges Mündlichkeitsprinzip. Parteien müssen mündlich verhandeln. Dies bedeutet, dass alle Vorbringen – beispielsweise Tatsachenbehauptungen, Beweisanträge, rechtliche Ausführungen – mündlich vorgetragen werden müssen. Im gegenständlichen Verfahren wurde ein vorbereitetes ergänzendes Vorbringen nicht mündlich vorgebracht, sondern zum Akt genommen und dem Protokoll angeschlossen. Ein wirksames mündliches Vorbringen, das mit der Ausdehnung des Klagebegehrens möglich wäre, wurde damit nicht erstattet. Die Behandlung der Berufskrankheit durch das Erst- und in weiterer Folge durch das Berufungsgericht war daher fehlerhaft. Selbst wenn das Vorbringen mündlich erstattet worden 377wäre, würden die obigen Ausführungen zur sukzessiven Kompetenz einer positiven Entscheidung des entsprechenden Begehrens aber entgegenstehen.
c) Zur Beschwer
Jedes Rechtsmittel setzt eine sogenannte Beschwer voraus. Darunter versteht man ein sogenanntes Anfechtungsinteresse. Rein theoretische Fragen sollen nicht durch das Gericht geklärt werden müssen. Der OGH führt klar aus, dass die Zurückweisung eines nicht gestellten Klagebegehrens (siehe oben b)) die Rechtssphäre des Kl nicht beeinträchtigen kann. Außerdem erleidet der Kl dadurch keine negativen Auswirkungen. Er kann weiterhin künftige Folgen einer behaupteten Berufskrankheit bei der Bekl geltend machen.
d) Feststellung eines Arbeitsunfalls oder Berufskrankheit
Jedes Begehren aus Leistungen der gesetzlichen UV beinhaltet gem § 82 Abs 5 ASGG das Eventualbegehren auf Feststellung des Versicherungsfalls des Arbeitsunfalls und/oder Berufskrankheit, sofern darüber noch nicht abgesprochen wurde. Nach stRsp kann die Feststellung nur getroffen werden, wenn zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz eine Gesundheitsstörung vorliegt, die Folge eines Arbeitsunfalls oder Berufskrankheit ist. Im gegenständlichen Verfahren lag diese Voraussetzung nicht mehr vor, auch ein potenzieller Eintritt von etwaigen Langzeitschäden oder Dauerfolgen wurde nicht festgestellt, sondern nur vom Kl vorgebracht.