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Kinderbetreuungsgeld: Die niederländische Leistung „Kinderopvangtoeslag“ ist keine vergleichbare ausländische Familienleistung

KRISZTINAJUHASZ
VO (EG) 883/2004;
DVO (EG) 987/2009

Unterschiede in Funktion und Struktur der beiden Leistungen lassen eine Vergleichbarkeit nicht annehmen.Eine (erfolgte oder nicht erfolgte) Antragstellung [Anm: im Ausland] berührt den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nicht und ein Ruhen wird auch nicht durch das Vorliegen eines (positiven oder negativen) Bescheids über eine ausländische Leistung bewirkt, sodass eine Verletzung der Mitwirkungspflicht insofern auch nicht denkbar ist.

SACHVERHALT

Die Kl ist die Mutter des * 2015 geborenen Kindes. Vom Zeitpunkt der Geburt an hatten Mutter und Kind ihren gemeinsamen Wohnsitz und Lebensmittelpunkt in Österreich. Von Jänner 2015 bis Februar 2016 ging die Kl keiner Beschäftigung nach. Von März 2016 bis Februar 2017 befand sie sich als Angestellte in einem Dienstverhältnis und übte dabei eine geringfügige Beschäftigung iSd § 5 Abs 2 ASVG in Österreich aus. Der Vater übte im Zeitraum von Jänner 2015 bis September 2016 eine unselbständige Berufstätigkeit in den Niederlanden aus. Weder er noch die Kl erhielten die in den Niederlanden nach den dortigen Rechtsvorschriften vorgesehene Leistung „Kinderopvangtoeslag“.

Mit Bescheid vom 21.4.2021 wies die bekl Österreichische Gesundheitskasse den Antrag der Kl vom 12.3.2015 (!) auf Zuerkennung des Kinderbetreuungsgeldes in der „Pauschalvariante 20+4“ für den Zeitraum von 8.1.2015 bis 7.9.2016 ab.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das Erstgericht gab dem auf Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld in der Leistungsart nach § 5a KBGG idF vor dem Bundesgesetz BGBl I 2016/53 für den Zeitraum gerichteten Klagebegehren statt. 398

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl nicht Folge. Es verneinte eine Vergleichbarkeit der niederländischen Leistung „Kinderopvangtoeslag“ mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld. Da eine Anrechnung nicht in Frage komme, sei auf die behauptete Verletzung der Mitwirkungspflicht nicht weiter einzugehen. Das Berufungsgericht ließ aber die Revision mangels Vorliegens höchstgerichtlicher Rsp zur Vergleichbarkeit der niederländischen Familienleistung „Kinderopvangtoeslag“ mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld zu.

Die Revision der Bekl war zulässig, aber nicht berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„1. Klarzustellen ist, dass sich Fragen der (vorrangigen oder nachrangigen) Zuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 im vorliegenden Fall nicht stellen:

Der Anspruch auf das von der Klägerin begehrte pauschale Kinderbetreuungsgeld in der Variante nach § 5a KBGG idF vor dem Bundesgesetz BGBl I 2016/53 (= BGBl I 2009/116) ist lediglich von der Erfüllung der in § 2 Abs 1 KBGG (idF BGBl I 2014/35) normierten Anspruchsvoraussetzungen abhängig, die hier unstrittig erfüllt sind. Insbesondere die Ausübung einer Erwerbstätigkeit durch die Klägerin berührt das Vorliegen dieser Anspruchsvoraussetzungen nicht (vgl 10 ObS 203/21g). Selbst wenn Österreich nach der VO (EG) 883/2004 nicht zur Leistungsgewährung (vor- oder nachrangig) zuständig wäre, wäre der Anspruch vielmehr schon nach nationalem Recht zu bejahen.

2. Darauf aufbauend stellt sich hier (nur) die Frage, ob (und bejahendenfalls inwieweit) dieser Anspruch iSd § 6 Abs 3 KBGG (idF BGBl I 2009/116) ruht, weil Anspruch auf eine vergleichbare ausländische Familienleistung besteht.

2.1. Die Ruhensbestimmung des § 6 Abs 3 KBGG ist eine international umfassend ausgestaltete Antikumulierungsregel (RIS-Justiz RS0125752) und erfasst „vergleichbare“ ausländische Familienleistungen […].

2.3. Eine Vergleichbarkeit iSd § 6 Abs 3 KBGG wird vom Obersten Gerichtshof – entsprechend der Auslegung der unionsrechtlichen Antikumulierungsvorschriften durch den EuGH – angenommen, wenn die Leistungen einander in Funktion und Struktur im Wesentlichen entsprechen (RS0122907) […].

2.3.1. Die Beklagte zieht auch in der Revision nicht in Zweifel, dass ein Anspruch auf die niederländische Leistung „Kinderopvangtoeslag“ nur dann besteht, wenn das Kind in einer registrierten Kindertagesstätte oder durch eine registrierte Einrichtung zur Tagesmutter-Betreuung betreut wird und die Höhe dieser Leistung – unabhängig vom Erwerbseinkommen des antragstellenden Elternteils – von der finanziellen Tragkraft und den tatsächlich entstandenen Kosten der Fremdbetreuung abhängig ist.

2.3.2. Das österreichische pauschale Kinderbetreuungsgeld in der Variante des § 5a KBGG (idF BGBl I 2009/116) ist demgegenüber eine Leistung für Elternteile, die sich gezielt der Kindererziehung in den ersten 20, höchstens 24 Lebensmonaten des Kindes widmen und die dazu dient, die Erziehung des Kindes zu vergüten, die anderen Betreuungs- und Erziehungskosten auszugleichen und gegebenenfalls die finanziellen Nachteile, die der Verzicht auf ein (Voll-)Erwerbseinkommen bedeutet, abzumildern […].

2.3.3. Diese Unterschiede in Funktion und Struktur der beiden Leistungen lassen eine Vergleichbarkeit nicht annehmen. […]

Der Beklagten ist lediglich darin zuzustimmen, dass das österreichische Kinderbetreuungsgeld – unter anderem (!) – auch dazu dient, Betreuungs- und Erziehungskosten auszugleichen, wozu auch Kosten einer Fremdbetreuung (wie sie vom niederländischen „Kinderopvangtoeslag“ abgedeckt werden sollen) fallen können. Damit wird aber die primäre Funktion des Kinderbetreuungsgeldes, die Kindererziehung zu vergüten und die finanziellen Nachteile abzumildern, die durch den Verzicht auf eine (Voll-)Erwerbstätigkeit entstehen, außer Acht gelassen, wodurch es sich vom niederländischen „Kinderopvangtoeslag“ deutlich unterscheidet. […]

3. Da die niederländische Leistung „Kinderopvangtoeslag“ somit keine dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare ausländische Familienleistung ist […], kommt es auch nicht darauf an, ob die vorrangige Zuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 (infolge der festgestellten Ausübung einer Erwerbstätigkeit in Österreich ab 1. März 2016) einer Anwendung des § 6 Abs 3 KBGG entgegen stünde (vgl dazu RS0125752). […]

4. Soweit die Beklagte der Klägerin weiterhin eine Verletzung der Mitwirkungspflicht vertritt, weil sie in den Niederlanden keinen Antrag auf die Leistung „Kinderopvangtoeslag“ gestellt habe, legt sie die Relevanz dieses Vorbringens für die gegenständliche Entscheidung nicht dar.

4.1. Entsprechend den Grundsätzen der sukzessiven Kompetenz hat das Gericht nicht die Verwaltungsentscheidung zu prüfen, sondern ein eigenes Verfahren durchzuführen und aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen vollkommen neu zu entscheiden (RS0053686; RS0106394; RS0112044). Im Fall einer Klage gegen einen auf die – erst seit 1. März 2017 als Ablehnungsgrund eingeführte (§ 50 Abs 15 KBGG idF BGBl I 2016/53) – Verletzung der Mitwirkungspflicht nach § 32 Abs 4 KBGG gestützten Bescheid ist Gegenstand des Gerichtsverfahrens daher nicht die Verletzung der Mitwirkungspflicht, sondern der geltend gemachte Anspruch (Sonntag in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG4 § 32 Rz 3), der hier zu bejahen ist.

4.2. Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht des § 32 KBGG könnte im Gerichtsverfahren für die Kostenentscheidung von Bedeutung sein […].399

4.3. […] eine Verletzung der Mitwirkungspflicht durch die Klägerin [ist] nicht ersichtlich:

Da nach § 6 Abs 3 KBGG schon der Anspruch auf eine vergleichbare Leistung ausreicht, treten ein ­Ruhen und eine Anrechnung nach dieser Bestimmung auch dann ein, wenn die ausländischen Leistungen nicht beantragt wurden (M. Weißenböck in Holzmann­Windhofer/Weißenböck, KBGG § 6, 134). Eine (erfolgte oder nicht erfolgte) Antragstellung berührt den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld somit nicht und ein Ruhen wird auch nicht durch das Vorliegen eines (positiven oder negativen) Bescheids über eine ausländische Leistung bewirkt, sodass eine Verletzung der Mitwirkungspflicht insofern auch nicht denkbar ist.

Allfällige aus einem Bescheid eines ausländischen Trägers zu ziehende Rückschlüsse auf die (im Verwaltungsverfahren von der Beklagten zu ermittelnde) Rechtslage im Ausland – etwa das Bestehen oder Nichtbestehen eines Anspruchs auf eine vergleichbare ausländische Familienleistung – sind nicht von der Mitwirkungspflicht des § 32 Abs 1 und 4 KBGG erfasst, die sich ausdrücklich auf die Aufklärung und Feststellung des für den Anspruch maßgeblichen Sachverhalts bezieht. […]

5.1. Zusammenfassend stellt die niederländische Leistung „Kinderopvangtoeslag“ keine iSd § 6 Abs 3 KBGG vergleichbare ausländische Familienleistung dar, sodass es dem von den Vorinstanzen bejahten Anspruch der Klägerin auf Kinderbetreuungsgeld in der begehrten Variante nicht entgegen steht. […]“

ERLÄUTERUNG

Diese E ist in mehrfacher Hinsicht praxisrelevant: Einerseits wurde die niederländische Leistung „Kinderopvangtoeslag“ als eine mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld nicht vergleichbare ausländische Familienleistung qualifiziert. Die unionsrechtswidrige Bestimmung des § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 – die nach ihrem Wortlaut nicht mehr auf die Gleichartigkeit (Vergleichbarkeit) ausländischer Familienleistungen abstellt, sondern sämtliche Familienleistungen gegenrechnen will – trat erst am 1.3.2017 in Kraft und war daher auf den vor diesem Zeitpunkt verwirklichten Sachverhalt nicht anzuwenden. Eine Vergleichbarkeit wird von der Judikatur erst dann angenommen, wenn die Leistungen einander in Funktion und Struktur im Wesentlichen entsprechen (RS0122907). Die Unterschiede beider Leistungen ließen im vorliegenden Fall eine Vergleichbarkeit nicht annehmen.

Besonders entscheidend sind für künftige Anträge – insb für zeitnahe Leistungen an Familien – die erneuten Klarstellungen des OGH zu grundlegenden Koordinierungsfragen:

Die Kl war keine Grenzgängerin iSd Art 1 lit f VO (EG) 883/2004, da sie in Österreich lebt und hier arbeitet. Somit war für sie der persönliche Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 – als unmittelbar Berechtigte – nicht eröffnet. Bereits in seiner E 10 ObS 173/19t vom 26.5.2020 hat der OGH ausgeführt, dass der Anspruch auf das pauschale Kinderbetreuungsgeld von einer Erwerbstätigkeit unabhängig sowie auch keine von der Beschäftigung des Kindesvaters abgeleitete Leistung ist. Nun wurde zu wiederholtem Mal betont, dass der Anspruch ausschließlich von der Erfüllung der in § 2 Abs 1 KBGG (hier: idF BGBl I 2014/35) normierten Anspruchsvoraussetzungen abhängig ist. Somit stellten sich Fragen zur vorrangigen oder nachrangigen Zuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 nicht.

Zudem verneinte der OGH die von der Bekl behauptete Verletzung einer Mitwirkungspflicht, weil eine Antragstellung durch die Kl im Ausland nicht erforderlich ist. Der OGH führte aus, dass eine erfolgte oder nichterfolgte Antragstellung im Ausland sowie positive oder negative Bescheide über ausländische Leistungen für den Anspruch auf das Kinderbetreuungsgeld bzw für die Leistungshöhe (Anrechnung) unerheblich sind und zudem von der Mitwirkungspflicht des § 32 Abs 1 und 4 KBGG nicht erfasst sind. Die vom KBGG verlangte Mitwirkungspflicht bezieht sich nämlich ausdrücklich auf die Aufklärung und Feststellung des für den Anspruch maßgeblichen Sachverhalts.

Der Revision der Bekl war daher nicht Folge zu geben.