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Insolvenz-Entgelt bei 50 % Homeoffice im Ausland

GERT-PETERREISSNER (GRAZ)
Art 9 Abs 1 RL 2008/94/EG
EuGH 16.2.2023 C-710/21IEF Service GmbH
  • Art 9 Abs 1 der RL 2008/94/EG ist dahin auszulegen, dass bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, dessen Garantieeinrichtung für die Befriedigung nicht erfüllter AN-Ansprüche zuständig ist, davon auszugehen ist, dass der AG, der zahlungsunfähig ist, nicht iS dieser Bestimmung im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, wenn nach dem Arbeitsvertrag des betreffenden AN dessen Arbeitsschwerpunkt und gewöhnlicher Arbeitsort im Sitzmitgliedstaat des AG liegen, der AN aber seine Aufgaben zu einem ebenso großen Teil seiner Arbeitszeit aus der Ferne von einem anderen Mitgliedstaat aus verrichtet, in dem sich sein Hauptwohnsitz befindet.

[...]

16 HB war seit dem 1.7.2017 bei der S GmbH mit Sitz in Graz (Österreich) als Leiter der strategischen Geschäftsentwicklung beschäftigt. S bot ihre Leistungen auch in Deutschland an, wo ein freiberuflicher Vertriebsingenieur für sie arbeitete, sie aber keine weiteren Mitarbeiter hatte.

17 Der Dienstvertrag von HB sah Österreich als Arbeitsschwerpunkt und gewöhnlichen Arbeitsort vor. HB leitete zwei Abteilungen und trug die Verantwortung für die Mitarbeiter im Büro in Graz. Tatsächlich arbeitete HB abwechselnd jeweils eine Woche im Büro in Graz und eine Woche in seinem Homeoffice in Deutschland, wo sich sein Hauptwohnsitz befand.

18 HB verfügt über eine Bescheinigung eines deutschen Versicherungsträgers gem Art 19 Abs 2 der VO 987/2009, wonach er dem deutschen Sozialversicherungsrecht unterliegt.

19 Am 4.7.2019 wurde über das Vermögen von S ein Sanierungsverfahren ohne Eigenverwaltung eröffnet.

20 [Die] IEF-Service handelt für den Insolvenz-Entgelt-Fonds, dh die österreichische Garantieeinrichtung iSd RL 2008/94.

21 HB beantragte Insolvenzgeld für seine bis zur Eröffnung des Sanierungsverfahrens rückständigen Ansprüche auf Arbeitsentgelt. Einen entsprechenden Antrag stellte er sowohl bei[m] IEF-Service als auch bei der deutschen Garantieeinrichtung. Nach dem Vorlagebeschluss ist der Ausgang des Verfahrens in Deutschland noch offen.

22 Mit Urteil vom 14.10.2019 gab das LGZ Graz (Österreich) dem Klagebegehren von HB statt.

[...]

25 Das vorlegende Gericht geht davon aus, dass eine von der zuständigen Einrichtung eines Mitgliedstaats gem Art 19 Abs 2 der VO 987/2009 ausgestellte gültige A1-Bescheinigung, wie sich aus dem Urteil vom 6.9.2018, Alpenrind u.a. (C-527/16, EU:C:2018:669), ergebe, nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich ist.

26 Daher erfülle HB trotz seines in Österreich geschlossenen Arbeitsvertrags und seiner zur Hälfte der Arbeitszeit am Unternehmenssitz von S in Österreich ausgeübten Beschäftigung die Voraussetzungen für die Pflichtversicherung in seinem Wohnsitzstaat, also Deutschland, und die deutschen Rechtsvorschriften seien im vorliegenden Fall anwendbar. Außerdem habe er nach diesen Rechtsvorschriften wohl – zumindest fiktiv – einen Arbeitsort in Deutschland.

27 Der österreichische Gesetzgeber habe die Vorgaben der RL 2008/94 in § 1 Abs 1 IESG dahin umgesetzt, dass eine Beschäftigung im Inland vorliege, wenn ein „Arbeitsverhältnis“ iSd § 3 Abs 1 oder Abs 2 lit a bis d ASVG gegeben sei. In diesem Zusammenhang bestehe eine Versicherungspflicht in Österreich.

28 Nach der Rsp des OGH sei nach § 1 Abs 1 IESG kein Anspruch auf Insolvenz-Entgelt gegeben, wenn ein im Ausland beschäftigter AN aufgrund seiner Tätigkeit keiner Versicherungspflicht in Österreich unterliege.

29 Da vorliegend HB im gleichen zeitlichen Ausmaß sowohl in Österreich als auch in Deutschland arbeite, aber der deutschen SV unterliege, stelle sich die Frage, ob Art 9 der RL 2008/94, der grenzübergreifende Fälle betreffe, anzuwenden sei. Die Antwort auf diese Frage hänge davon ab, ob das 32 Anbieten der Leistungen von S in Deutschland, die festgestellte Zusammenarbeit mit einem freiberuflichen Vertriebsingenieur in Deutschland und die regelmäßige Arbeit von HB im Homeoffice in Deutschland als Anknüpfungspunkte ausreichten, um eine „feste wirtschaftliche Präsenz“ des AG in Deutschland iSd Urteile vom 16.10.2008, Holmqvist (C-310/07, EU:C:2008:573), und vom 10.3.2011, Defossez (C-477/09, EU:C:2011:134), zu bejahen.

30 Sollte dies der Fall sein, sei angesichts der gleichen Verteilung der Arbeitszeit bei gleichem Inhalt der Tätigkeit in Anwendung der Kriterien des Wohnsitzes und der Versicherungspflicht von HB zu klären, in welchem Staat er seine Arbeit „gewöhnlich“ iSd Art 9 Abs 1 der RL 2008/94 verrichtet habe, um danach die Zuständigkeit der nationalen Garantieeinrichtung ermitteln zu können.

31 Im Übrigen entspreche es, auch wenn man davon ausgehe, dass kein zwingender Zusammenhang zwischen Beitragspflicht und Sicherungsanspruch bestehe (vgl in diesem Sinne Urteil vom 25.2.2016, Stroumpoulis u.a., C-292/14, EU:C:2016:116, Rn 68), wohl der Zielrichtung der Grundfreiheiten, eine Doppelbelastung von AG, deren AN in zwei Mitgliedstaaten arbeiteten und aufgrund dessen eine beitragsfinanzierte Insolvenzentgeltsicherung hätten, zu vermeiden.

32 Vor diesem Hintergrund hat der OGH beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Art 9 Abs 1 der RL 2008/94 dahin auszulegen, dass ein Unternehmen iS dieser Bestimmung bereits dann im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, wenn es in einem anderen Mitgliedstaat seine Leistungen anbietet, zu diesem Zweck dort einen freiberuflichen Vertriebsingenieur beschäftigt und ein am Unternehmenssitz angestellter AN regelmäßig jede zweite Woche im anderen Mitgliedstaat im Homeoffice arbeitet?

Falls die Frage 1 bejaht wird:

2. Ist Art 9 Abs 1 der RL 2008/94 dahin auszulegen, dass ein AN eines solchen Unternehmens, der im zweiten Mitgliedstaat seinen Wohnsitz hat und dort der Sozialversicherungspflicht unterliegt, aber abwechselnd je eine Woche seine Arbeit in dem Mitgliedstaat verrichtet, in dem der AG seinen Sitz hat, und dann in dem Mitgliedstaat verrichtet, in dem er seinen Wohnsitz hat und der SV unterliegt, diese iS dieses Artikels „gewöhnlich“ in beiden Mitgliedstaaten verrichtet?

Falls die Frage 2 bejaht wird:

3. Ist Art 9 Abs 1 der RL 2008/94 dahin auszulegen, dass für die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche eines AN, der seine Arbeit gewöhnlich in zwei Mitgliedstaaten verrichtet oder verrichtet hat,

  1. die Garantieeinrichtung des Mitgliedstaats zuständig ist, dessen Rechtsvorschriften er im Rahmen der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit unterliegt, wenn die Garantieeinrichtungen gem Art 3 der RL 2008/94 in beiden Staaten so gestaltet sind, dass die AG-Beiträge zur Finanzierung der Sicherungseinrichtung als Teil der Pflichtbeiträge zur SV zu entrichten sind,

  2. oder die Garantieeinrichtung des anderen Mitgliedstaats, in dem das zahlungsunfähige Unternehmen seinen Sitz hat, oder

  3. die Garantieeinrichtungen beider Mitgliedstaaten, so dass der AN bei der Antragstellung wählen kann, welche er in Anspruch nehmen will?

die Garantieeinrichtungen beider Mitgliedstaaten, so dass der AN bei der Antragstellung wählen kann, welche er in Anspruch nehmen will?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

33 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art 9 Abs 1 der RL 2008/94 dahin auszulegen ist, dass bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, dessen Garantieeinrichtung für die Befriedigung nicht erfüllter AN-Ansprüche zuständig ist, davon auszugehen ist, dass der AG, der zahlungsunfähig ist, iS dieser Bestimmung im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, wenn nach dem Arbeitsvertrag des betreffenden AN dessen Arbeitsschwerpunkt und gewöhnlicher Arbeitsort im Sitzmitgliedstaat des AG liegen, der AN aber seine Aufgaben zu einem ebenso großen Teil seiner Arbeitszeit aus der Ferne von einem anderen Mitgliedstaat aus verrichtet, in dem sich sein Hauptwohnsitz befindet.

34 Zur Beantwortung dieser Frage ist vorweg darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art 3 Abs 1 der RL 2008/94 die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit vorbehaltlich des Art 4 dieser RL Garantieeinrichtungen die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche der AN aus Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen sicherstellen, einschließlich, sofern dies nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehen ist, einer Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

35 Art 9 Abs 1 der RL 2008/94, der „grenzübergreifende Fälle“ betrifft, sieht vor, dass, wenn ein Unternehmen, das im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, iS von Art 2 Abs 1 dieser RL zahlungsunfähig ist, für die Befriedigung der nicht erfüllten AN-Ansprüche die Einrichtung desjenigen Mitgliedstaats zuständig ist, in dessen Hoheitsgebiet die betreffenden AN ihre Arbeit gewöhnlich verrichten oder verrichtet haben.

36 Um zu beurteilen, ob in einem Fall wie dem oben in Rn 33 beschriebenen Art 9 Abs 1 der RL 2008/94 Anwendung findet, ist zu prüfen, ob der AG iS dieser Bestimmung „im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist“.

37 In der Rechtssache, in der das Urteil vom 16.10.2008, Holmqvist (C-310/07, EU:C:2008:573), ergangen ist, war der Gerichtshof aufgerufen, den mit Art 9 Abs 1 der RL 2008/94 inhaltsgleichen Art 8a Abs 1 der RL 80/987/EWG des Rates vom 20.10.1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der AN bei Zahlungsunfähigkeit des AG (ABl 1980, L 283, 23) in der durch die RL 2002/74/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.9.2002 (ABl 2002, L 270, 10) geänderten Fassung auszulegen.

38 Der Gerichtshof hat entschieden, dass, obwohl Art 8a Abs 1 der RL 80/987 in der durch die RL 2002/74 geänderten Fassung keine strengen Anknüpfungsvoraussetzungen aufstellt, sondern auf eine schwächere Verbindung als die Präsenz 33 des Unternehmens über eine Zweigniederlassung oder eine feste Niederlassung abzielt, dennoch kein Anlass besteht, dem Vorbringen zu folgen, wonach ein Unternehmen schon dann als im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats tätig angesehen werden könne, wenn ein AN in diesem anderen Mitgliedstaat für Rechnung seines AG irgendeine Form von Arbeit verrichte und diese auf einen Bedarf und eine Weisung des AG zurückgehe (Urteil vom 16.10.2008, Holmqvist, C-310/07, EU:C:2008:573, Rn 29).

39 Der Tätigkeitsbegriff dieser Bestimmung muss nämlich so verstanden werden, dass er auf Gegebenheiten mit einer gewissen Dauerhaftigkeit im Gebiet eines Mitgliedstaats verweist. Diese Dauerhaftigkeit findet darin ihren Ausdruck, dass ein oder mehrere AN in diesem Gebiet dauerhaft beschäftigt werden (Urteil vom 16.10.2008, Holmqvist, C-310/07, EU:C:2008:573, Rn 30).

40 Zwar lässt sich in Anbetracht der unterschiedlichen Formen, die grenzübergreifende Arbeit annehmen kann, und unter Berücksichtigung der Veränderungen der Arbeitsbedingungen und des Fortschritts auf dem Gebiet der Telekommunikation nicht vertreten, dass ein Unternehmen zwangsläufig über eine physische Infrastruktur verfügen muss, um eine feste wirtschaftliche Präsenz in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, in dem es seinen Sitz hat, sicherzustellen. Denn die verschiedenen Aspekte eines Arbeitsverhältnisses, insb die Übermittlung der Weisungen an den AN und die Übermittlung von dessen Berichten an den AG sowie die Überweisung der Vergütung, können nunmehr auch aus der Ferne abgewickelt werden (Urteil vom 16.10.2008, Holmqvist, C-310/07, EU:C:2008:573, Rn 32).

41 Damit jedoch ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen als im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats tätig angesehen werden kann, muss es im letztgenannten Staat über eine feste wirtschaftliche Präsenz verfügen, die durch das Vorhandensein von Personal gekennzeichnet ist, das es ihm ermöglicht, dort Tätigkeiten zu entfalten (Urteil vom 16.10.2008, Holmqvist, C-310/07, EU:C:2008:573, Rn 34).

42 Wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, lag im vorliegenden Fall, obwohl HB de facto seine Arbeit in zeitlicher Hinsicht zur Hälfte von seinem Wohnsitz in Deutschland aus verrichtete, der Schwerpunkt dieser Arbeit, nämlich zwei Abteilungen zu leiten und die Verantwortung für die AN im Büro des AG in Österreich zu tragen, nach dem Dienstvertrag und in der Praxis im letztgenannten Mitgliedstaat.

43 Darüber hinaus bekräftigt der Umstand, dass der AG von HB in Deutschland mit Ausnahme eines freiberuflichen Vertriebsingenieurs, der dort für ihn arbeitete, sonst niemanden beschäftigte, dass mit der Tätigkeit von HB keine irgendwie geartete dauerhafte Präsenz des AG in Deutschland einhergehen konnte.

44 Im Licht der oben in den Rn 38 bis 41 angeführten Rsp ist festzustellen, dass unter diesen Umständen ein AG wie der von HB nicht iS von Art 9 Abs 1 der RL 2008/94 im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist.

45 Diese Schlussfolgerung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass HB über eine nach Art 19 Abs 2 der VO 987/2009 ausgestellte Bescheinigung verfügt, wonach er den deutschen Rechtsvorschriften unterliegt. Denn wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, hat diese Bescheinigung zwar, wie sich aus Art 5 Abs 1 der VO 987/2009 ergibt, Bindungswirkung in Bezug auf die Verpflichtungen, die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit – auf die sich die mit der VO 883/2004 eingeführte Koordinierung bezieht – ergeben, doch hat eine solche Bescheinigung keinen Einfluss auf die Bestimmung des Mitgliedstaats, in dem HB seine nicht erfüllten Ansprüche auf Arbeitsentgelt gemäß der RL 2008/94 geltend machen muss.

46 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art 9 Abs 1 der RL 2008/94 dahin auszulegen ist, dass bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, dessen Garantieeinrichtung für die Befriedigung nicht erfüllter AN-Ansprüche zuständig ist, davon auszugehen ist, dass der AG, der zahlungsunfähig ist, nicht iS dieser Bestimmung im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, wenn nach dem Arbeitsvertrag des betreffenden AN dessen Arbeitsschwerpunkt und gewöhnlicher Arbeitsort im Sitzmitgliedstaat des AG liegen, der AN aber seine Aufgaben zu einem ebenso großen Teil seiner Arbeitszeit aus der Ferne von einem anderen Mitgliedstaat aus verrichtet, in dem sich sein Hauptwohnsitz befindet.

Zur zweiten und zur dritten Frage

47 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage sind die zweite und die dritte Frage nicht zu beantworten. [...]

ANMERKUNG

Im gegenständlichen Verfahren hatte die IEF-Service GmbH den IESG-Antrag eines AN, der zur Hälfte seiner Arbeitszeit in einem Büro der AG in Graz und zur anderen Hälfte in seinem Homeoffice in Deutschland tätig war, abgelehnt. Der Klage gegen diese E wurde in der Folge von der 1. und der 2. Instanz im sozialgerichtlichen Verfahren stattgegeben. Der OGH (8 ObS 7/20t ARD 6788/9/2022) unterbrach das Verfahren und ersuchte mit Vorlagebeschluss den EuGH um Vorabentscheidung. Nach der vorliegenden Stellungnahme des EuGH wurde das Verfahren durch eine Entscheidung im fortgesetzten Verfahren (OGH8 ObS 1/23iDRdA-infas 2023/110, 237) zu Ende gebracht und die Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt.

1.
Mögliche Anknüpfungspunkte einer Insolvenz- Entgeltsicherung bei Auslandsbezug

Die Anknüpfung derartiger Fälle löst seit jeher größere Probleme aus, und zwar sowohl vor dem Hintergrund der InsolvenzRL 2008/94/EG (bzw der VorgängerRL) als auch im Bereich des IESG. Auszugehen ist davon, dass nur eine Garantieeinrichtung zuständig sein soll; dies ergibt sich recht 34 deutlich aus Art 9 Abs 1 der RL 2008/94 (so auch OGH8 ObS 7/20t ARD 6788/9/2022, Rn 22; Vinzenz, Insolvenz-Entgelt und Auslandsbezug, ZESAR 2022, 375 [377]). Als Anknüpfungspunkte sind insb in Betracht zu ziehen der (Mitglied-)Staat des Insolvenzverfahrens, der Staat der SV, jener des Sitzes bzw der Niederlassung des AG sowie jener des gewöhnlichen Arbeitsortes bzw der Tätigkeit des AN.

2.
Unionsrechtliche Wegmarken zum Thema

Erstmals mit einem einschlägigen Fall befasst war der EuGH im Jahre 1997 in der Rs Mosbaek (EuGH 17.9.1997, C-117/96, Slg 1997, I-5017). Zu dieser Zeit gab es keine entsprechende Regelung in der (damaligen) RL 80/987 (ausführlicher dazu Sundl, Insolvenz-Entgeltsicherung in Österreich unter Berücksichtigung unionsrechtlicher Vorgaben, in Jaufer/Nunner-Krautgasser/Schummer [Hrsg], Insolvenz- und Sanierungsrecht [2021] 273 ff [292 ff]). Der Gerichtshof stellte daher auf die Garantieeinrichtung jenes Staates ab, in dem entweder die Eröffnung des Verfahrens zur gemeinschaftlichen Gläubigerbefriedigung beschlossen oder die Stilllegung des Unternehmens oder Betriebs des AG festgestellt wurde. Frau Mosbaek war die einzige Mitarbeiterin eines britischen Unternehmens in Dänemark, wobei dieses dort weder niedergelassen noch eingetragen war. Zuständig war daher die Einrichtung des Insolvenzstaates Großbritannien.

In der Rs Everson (EuGH 16.12.1999, C-198/98, Slg 1999, I-8903) sprach der Gerichtshof aus, dass die Mosbaek-Anknüpfung sich nur auf den Fall bezieht, dass der AG in einem einzigen Mitgliedstaat niedergelassen ist (Sundl in Jaufer/Nunner-Krautgasser/Schummer [Hrsg], Insolvenz- und Sanierungsrecht 292 f ). Wird hingegen das Insolvenzverfahren über den zahlungsunfähigen AG im Mitgliedstaat, in dem er seinen Sitz hat (Irland), eröffnet, hat der AG jedoch auch eine Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat (Großbritannien), so ist die Garantieeinrichtung des Staates dieser Niederlassung für die Befriedigung der Ansprüche jener AN zuständig, die im Staat dieser Niederlassung ihre Tätigkeit ausgeübt haben.

Auf diese alte Rechtslage bezieht sich auch die Rs(DefossezEuGH 10.3.2011, C-477/09, ECLI:EU:C:2011:134, Rn 27 ff). Der Gerichtshof verneinte im Falle eines Baupoliers, der in Belgien für Unternehmen mit Sitz in Frankreich tätig war, das Vorliegen eines „Betriebs“ in einem anderen Mitgliedstaat, sodass iSd E Mosbaek die französische Einrichtung, in welche auch die einschlägigen Beiträge entrichtet worden seien, zuständig ist. Selbst wenn die RL dem AN nicht die Möglichkeit verleihe, zwischen verschiedenen Einrichtungen zu wählen, schließe sie nicht aus, dass sich der AN auf die Garantie einer anderen Einrichtung als der in Anwendung dieser RL ermittelten berufen könne, wenn dies für ihn günstiger ist und das nationale Recht es vorsieht.

In der sogenannten Änderungs-RL 2002/74 (Art 8a) sowie dann (laut Gerichtshof in der zu besprechenden E) „inhaltsgleich“ in Art 9 der neu kodifizierten RL 2008/94 wurden im Groben bzw in der Tendenz die Everson-Grundsätze festgeschrieben. Im Falle der Zahlungsunfähigkeit eines Unternehmens, das im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, ist die Einrichtung desjenigen Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet die betreffenden AN ihre Arbeit gewöhnlich verrichten oder verrichtet haben. Erforderlich ist keine (Zweig-)Niederlassung, aber eine „Tätigkeit“ im weiteren Mitgliedstaat (Graf-Schimek, ZAS 2010/8, 45). Keine Regelung wird für den Fall getroffen, dass das insolvente Unternehmen in nur einem Mitgliedstaat tätig ist. Diesbezüglich wird auf die Festlegung in der E Mosbaek zurückzugreifen sein, womit die Garantieeinrichtung des Insolvenzstaats zuständig ist (so auch Graf-Schimek, ZAS 2010/8, 45).

Auf Basis der zitierten Richtlinienbestimmungen ging es in der Folge vor allem um die Anforderungen an eine Tätigkeit des Unternehmens in einem oder mehreren weiteren Mitgliedstaaten. In der Rs Holmqvist (EuGH 16.10.2008, C-310/07, ZAS 2010/8, 43 [Graf-Schimek]) hielt der Gerichtshof fest, dass es nicht erforderlich ist, dass ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen über eine Zweigniederlassung oder eine feste Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat verfügt, es muss aber eine „feste wirtschaftliche Präsenz“ vorliegen, die durch das Vorhandensein von Personal gekennzeichnet ist, das es ihm ermöglicht, dort Tätigkeiten zu entfalten. Es reicht nicht aus, dass ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Transportunternehmen einen AN, Herrn Holmqvist, beschäftigt, der Warenlieferungen zwischen diesem Staat und einem anderen Mitgliedstaat durchführt. Im gegebenen Zusammenhang relevant erscheint schließlich eine Stellungnahme des EuGH in der Rs (StroumpolisEuGH 25.2.2016, C-292/14, EuZA 2016, 470 [Ricken]). Im zugrunde liegenden Sachverhalt ging es um griechische Seeleute, die auch in Griechenland wohnten und von einer Gesellschaft mit satzungsmäßigem Sitz in Malta (damals kein Mitgliedstaat) angeheuert wurden, um an Bord eines unter maltesischer Flagge fahrenden Kreuzfahrtschiffes tätig zu werden; in den Heuerverträgen war die Geltung maltesischen Rechts vereinbart. In weiterer Folge wurde diese Gesellschaft von einem griechischen Gericht für zahlungsunfähig erklärt. In einem (unionsrechtlichen Haftungs-)Verfahren der Seeleute gegen den griechischen Staat wurde festgestellt, dass die Gesellschaft ihren „tatsächlichen Sitz“ in Griechenland hatte. Laut EuGH genießen die betroffenen AN den Schutz der gegenständlichen RL, wobei der Ort der Tätigkeit, das Arbeitsvertragsstatut und namentlich die Beitragsleistung in die Garantieeinrichtung unmaßgeblich seien (dazu im Detail Ricken, EuZA 2016, 474 ff).

3.
Die österreichische Sichtweise

§ 1 Abs 1 IESG setzt voraus, dass die Anspruchsberechtigten „gem § 3 Abs 1 oder Abs 2 lit a-d ASVG als im Inland beschäftigt gelten (galten)“. Mit diesem Verweis auf eine Inlandsbeschäftigung iSd § 3 Abs 1 und 2 lit a-d ASVG knüpft das IESG an eine 35

Sozialversicherungspflicht des (ehemaligen) AN, freien DN iSd § 4 Abs 4 ASVG bzw Heimarbeiters nach ASVG an. Bereits vor der gesetzlichen Klarstellung durch BGBl I 2005/102 hatte die Rsp versucht, die Zuständigkeit der Garantieeinrichtung mit der entsprechenden (sozialversicherungsrechtlichen) Beitragsleistung abzustimmen. Der OGH (8 ObS 18/04mDRdA 2006/46, 486 [Bachner]) sprach aus, dass sich aus den EuGH-Entscheidungen in den Rs Mosbaek und Everson (siehe 2.) die Geltung des Versicherungsprinzips ergebe, wonach aus unionsrechtlicher Sicht die Garantieeinrichtung jenes Mitgliedstaats zur Zahlung zuständig sei, in dem die Beiträge gem Art 5 der RL entrichtet wurden.

Angesichts der gegenständlichen E sowie des unter 2. Dargestellten kann gesagt werden, dass Beitragspflicht bzw Versicherungsprinzip mit dem Sicherungsanspruch zwar häufig, aber nicht zwingend immer synchron gehen werden (vgl auch Sundl in Jaufer/Nunner-Krautgasser/Schummer [Hrsg], Insolvenz- und Sanierungsrecht 293 f ).

4.
Die vorliegende Entscheidung und das österreichische Recht

Laut EuGH ist die Dienstleistung des AN im Homeoffice in Deutschland im Ausmaß von 50 % seiner Arbeitszeit sowie die Zusammenarbeit der AG mit einem freiberuflichen Vertriebsmitarbeiter dort nicht ausreichend für das Vorliegen einer Tätigkeit des Unternehmens im Hoheitsgebiet eines zweiten Mitgliedstaats iSd Art 9 Abs 1 RL 2008/94. Es fehle an der „festen wirtschaftlichen Präsenz“ iSd Entscheidung in der Rs Holmqvist (dazu 2.). Das Arbeiten des AN in seinem Homeoffice bezieht sich letztlich auf die Tätigkeit der AG in Österreich, die Geschäftsbeziehung mit einer freiberuflich in Deutschland tätigen Person führt gerade nicht zu einer festen Präsenz der AG in Deutschland. Dazu hätte es dort für die AG agierender AN bedurft, also „Personal“, welches es dem Unternehmen „ermöglicht“, auch in Deutschland „Tätigkeiten zu entfalten“ (EuGH Rs Holmqvist, Rn 36; Vinzenz, ZESAR 2022, 376 f mwN). ME könnten hier ein einziger oder sehr wenige AN ausreichen, die am deutschen Markt agieren.

Damit fällt Herr HB in die Zuständigkeit der österreichischen Insolvenz-Entgeltsicherung, obwohl er nicht in Österreich, sondern in Deutschland sozialversichert war. Von der RL 2008/94 wird eben nicht auf die Situation nach der Koordinierungs-VO 883/2004 Bezug genommen, sondern eine eigene Anknüpfung statuiert (Vinzenz, ZESAR 2022, 376). Es stellt sich damit die Frage, wie die unter 3. dargestellte Regelung im IESG mit dieser unionsrechtlichen Situation korrespondiert. Im fortgesetzten Verfahren hat der OGH (8 ObS 1/23i DRdA-infas 2023/110, 237) den in § 1 Abs 1 IESG angesprochenen § 3 Abs 1 ASVG unter Verweis auch auf § 3 Abs 4 ASVG ausgelegt und festgehalten, dass der Wortlaut dieser Bestimmungen („Beschäftigungsort im Inland“, „Ort, an dem die Beschäftigung ausgeübt wird“, bei „Beschäftigung abwechselnd an verschiedenen Orten“ gilt eine „feste Arbeitsstätte“ als Beschäftigungsort, nur bei Fehlen einer solchen ist der Wohnsitz des Versicherten maßgeblich) Herrn HB als im Inland beschäftigt iSd § 3 Abs 1 ASVG ausweist, womit eine mit der RL 2008/94 konforme, vom Wortlaut her mögliche Interpretation vorgenommen wurde.

In anderen Fällen allerdings wird eine unionsrechtskonforme Interpretation des § 1 Abs 1 IESG iVm § 3 Abs 1 und 2 lit a-d ASVG nicht mehr möglich sein. Als Beispiel nehme man Außendienstmitarbeiter, die für ein in Österreich insolventes Unternehmen ohne feste Arbeitsstätte sowie mit Wohnsitz in Deutschland und überwiegender gewöhnlicher Arbeitsverrichtung in Österreich tätig sind. Gem IESG und ASVG ist hier auf den Wohnsitz abzustellen und nach diesen Bestimmungen daher keine Sozialversicherungspflicht in Österreich gegeben. Nach Art 9 Abs 1 der RL 2008/94 ist zunächst – was ja Grundvoraussetzung ist – das Unternehmen in zwei Mitgliedstaaten tätig und die gewöhnliche Arbeitsverrichtung der AN überwiegend in Österreich (zur Maßgeblichkeit des quantitativen Überwiegens Vinzenz, ZESAR 2022, 377 mwN), sodass die österreichische Garantieeinrichtung zuständig ist. In derartigen Konstellationen wird man Art 9 Abs 1 der RL unmittelbar gegen den Staat – die IEF-Service GmbH ist mE Staat iSd Europarechts – und zugunsten der Bürger anwenden und den Wortlaut des § 1 Abs 1 IESG beiseite schieben müssen. Sundl (in Jaufer/Nunner-Krautgasser/Schummer [Hrsg], Insolvenz- und Sanierungsrecht 294 ff) verweist in ähnlichen Zusammenhängen auf die Rs Gharehveran (EuGH 18.10.2001, C-441/99, ECLI:EU:C:2001:551), wonach zu Unrecht aus dem Kreis der Begünstigten ausgeschlossene Personen den Anspruch auf Befriedigung ihrer Entgeltforderungen unmittelbar gegenüber einem Mitgliedstaat, der sich in der Umsetzung der RL unter Ausschöpfung diesbezüglicher Gestaltungspielräume selbst zum Schuldner gemacht hat, geltend machen können. Die österreichische Konstruktion (IEF, im Eigentum des Bundes stehende IEF-Service GmbH, die das IESG weitgehend hoheitlich zu vollziehen hat) ist mE ausreichend „staatsnah“ in diesem Sinn, auch die Garantien des IESG sind klar umrissen und unbedingt. 36