3COVID-19-Erkrankung eines privaten Nachhilfelehrers: Keine Berufskrankheit mangels vergleichbarer Gefährdung wie in Schulen
COVID-19-Erkrankung eines privaten Nachhilfelehrers: Keine Berufskrankheit mangels vergleichbarer Gefährdung wie in Schulen
Das besondere Infektionsrisiko an Schulen resultiert aus dem Zusammenkommen einer Vielzahl von Personen an einem Ort mit einem länger dauernden Aufenthalt in Innenräumen zum Zweck des Unterrichts. In einem privaten Nachhilfeinstitut treten die gleichen Risikofaktoren für die Übertragung von Infektionskrankheiten auf, allerdings in geringerer quantitativer Ausprägung bzw Intensität.
Der maßgebliche Unterschied in der abstrakten Exponiertheit eines Lehrers an einer Schule gegenüber Infektionskrankheiten im Vergleich zu der abstrakt mit der Tätigkeit als Unterrichtender an einem Nachhilfeinstitut verbundenen Risikosituation besteht in der Zahl der insgesamt im Gebäude und in den jeweiligen Unterrichtsräumen zusammenkommenden Personen.
[1] Gegenstand des Verfahrens ist die Qualifikation der beim Kl aufgetretenen COVID-19-Erkrankung als Berufskrankheit gem § 177 Abs 1 ASVG iVm Nr 38 der Anlage 1 zum ASVG.
[2] Der Kl bietet Nachhilfeunterricht überwiegend für Jugendliche sowie für Erwachsene an; er koordiniert Lehrpersonen und hält selbst Unterricht. Der im Vorhinein vereinbarte Unterricht wird üblicherweise Montag bis Freitag von 12:15 bis 20:00 Uhr und samstags von 8:00 bis 12:00 Uhr in zweistündigen Einheiten mit bis zu fünf Schülerinnen und Schülern abgehalten. Im März 2020 waren zwischen 50 und 80 aktive Schülerinnen und Schüler in der Datenbank des Unternehmens erfasst. Der Kl unterrichtete „vor Corona“ höchstens 10 bis 16 Schülerinnen und Schüler pro Tag. Das Unternehmen des Kl befindet sich in den Kellerräumen seines Wohnhauses und hat einen separaten Eingang. Es gibt einen Eingangsbereich, zwei Unterrichtsräume und eine Küche. Aufgrund der Raumgröße des (einen) Unterrichtsraums von etwa 20 m2 wurden höchstens drei Schülerinnen und Schüler gleichzeitig unterrichtet, bei einer größeren Schülerzahl wurden beide Unterrichtsräume parallel genutzt. Der vorgeschriebene Mindestabstand wurde eingehalten, alle 20 Minuten wurde gelüftet. Es wurden Einmal-Masken verwendet. Plexiglaswände waren nicht vorhanden.
[3] Der Kl unterrichtete am Mittwoch, den 4.11.2020, eine Gruppe von drei Schülerinnen sowie in der gleichen Woche eine andere Gruppe mit vier bis fünf Schülerinnen und Schülern. Er wurde am 10.11.2020 positiv auf eine Corona-Infektion getestet.
[4] Mit Bescheid vom 19.7.2021 sprach die Bekl aus, die Gesundheitsstörung sei nicht Folge einer Berufskrankheit.
[5] In seiner dagegen erhobenen Klage bringt der Kl vor, er habe sich beim Unterricht am 4.11.2020, bei dem eine seiner Schülerinnen bereits Symptome einer COVID-19-Erkrankung gehabt habe und nach dem bei den Familienmitgliedern dieser sowie einer zweiten Schülerin Corona-Infektionen nachgewiesen worden seien, angesteckt. Er leide an im Einzelnen bezeichneten Langzeitfolgen dieser Erkrankung (Long COVID). Sein Lernhilfeunternehmen sei als Schule iSv Nr 38 Anlage 1 zum ASVG zu qualifizieren; jedenfalls bestehe aufgrund des Zusammenströmens von Schülerinnen und Schülern ein vergleichbares Ansteckungsrisiko. [...]
[7] Das Erstgericht wies die Klage ab.
[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge. [...]
[10] Dagegen richtet sich die Revision des Kl, mit der er die Abänderung und Klagestattgebung anstrebt; hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag. [...]
[13] Die Revision des Kl ist aus den von ihm angeführten Gründen zulässig, sie ist aber nicht berechtigt. [...]
B. Zum Vorliegen einer Berufskrankheit
[19] 2.1. Als Berufskrankheiten gelten gem § 177 Abs 1 ASVG die in der Anlage zum ASVG (Anlage 1) bezeichneten Krankheiten unter den dort angeführten Voraussetzungen, wenn sie durch Ausübung der die Versicherung begründenden Beschäftigung in einem in Spalte 3 der Anlage bezeichneten Unternehmen verursacht sind.
[20] Es wird also nicht jede Krankheit als Berufskrankheit anerkannt, die als Folge arbeitsbedingter Einwirkungen auftreten kann, sondern es ist im Einzelnen festgelegt, welche Krankheiten unter welchen Voraussetzungen als Berufskrankheiten gelten (Tomandl in Tomandl/Felten, System des österreichischen Sozialversicherungsrechts [37. Lfg 2021] Pkt 2.3.2. [273]).
[21] Die Bezeichnung einer bestimmten Krankheit als Berufskrankheit bedeutet, dass sie rechtlich generell geeignet ist, eine Berufskrankheit zu sein. Sie stellt jedoch im Hinblick auf die Beweislast noch keine Kausalitätsvermutung auf. Der haftungsbegründende Zusammenhang muss vielmehr vom Versicherten zusätzlich bewiesen werden (RS0084375; vgl zum Kausalitätsbeweis im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion: 10 ObS 132/22t).
[22] 2.2. Relevant ist im vorliegenden Fall einer Corona-Infektion Nr 38 der Anlage 1 zum ASVG „Infektionskrankheiten“.
[23] Nr 38 der Anlage 1 zählt (in seiner Spalte 3) folgende Unternehmen auf: Krankenhäuser, Heilund Pflegeanstalten, Entbindungsheime und sonstige Anstalten, die Personen zur Kur und Pflege aufnehmen, öffentliche Apotheken, ferner Einrichtungen und Beschäftigungen in der öffentlichen und privaten Fürsorge, in Schulen, Kindergärten und Säuglingskrippen und im Gesundheitsdienst sowie in Laboratorien für wissenschaftliche und 37
medizinische Untersuchungen und Versuche sowie in Justizanstalten und Hafträumen der Verwaltungsbehörden bzw in Unternehmen, in denen eine vergleichbare Gefährdung besteht.
[24] 2.3. Der Sinn der Nr 38 besteht darin, Personen einen Schutz zu bieten, die aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit in besonderer Ansteckungsgefahr schweben (Tomandl in Tomandl/Felten [37. Lfg 2021] Pkt 2.3.2. [275]). Gesetzgeberisch erfolgte dies dadurch, dass auf besondere Unternehmen abgestellt wird, in denen die dort Beschäftigten in einem besonderen Ausmaß der Gefahr von Ansteckungen ausgesetzt sind (vgl 10 ObS 175/88; 10 ObS 159/88 SSV-NF 2/88; RS0085380, je zur damals geltenden Fassung der Nr 38).
[25] 2.4. Die zur Berufskrankheit Nr 38 aufgezählten Unternehmen wurden mehrfach erweitert.
[26] Schulen wurden mit BGBl 1969/17 in die Liste der erfassten Unternehmen aufgenommen: Mit dieser Novelle wurde Nr 38 um Infektionskrankheiten an Schulen, Kindergärten und Säuglingskrippen sowie Justizanstalten erweitert. Die Ergänzung wurde damit begründet, dass auch die in diesen Einrichtungen beschäftigten Personen einer erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt seien. Konkret sei für das Personal von Kindergärten und Säuglingskrippen die Gefahr der Ansteckung mit Kinderkrankheiten, aber auch mit Tuberkulose und Darminfektionen besonders groß; ähnliche Überlegungen gälten für Lehrpersonen und Bedienstete in Justizanstalten (ErläutRV 1059 BlgNR 11. GP 29).
[27] Mit BGBl I 1998/138 wurde eine Generalklausel angefügt: Erfasst sind demnach auch Infektionskrankheiten in „Unternehmen, in denen eine vergleichbare Gefährdung besteht“. Die Erweiterung erfolgte als Reaktion darauf, dass der bestehende Unternehmensbegriff als zu eng erkannt wurde, weil Infektionskrankheiten auch in Unternehmen aufträten, die nicht in der Liste angeführt seien, in denen aber eine vergleichbare Gefährdung bestehe. Beispielhaft genannt werden in den Materialien der „gesamte Bereich der Müllentsorgung“ oder Labore, in denen nicht (wie in der Auflistung der Nr 38 gefordert) wissenschaftliche oder medizinische Untersuchungen durchgeführt werden. Es sei nicht zweckmäßig, die Liste um weitere namentlich angeführte Unternehmen zu erweitern, da das Risiko bestünde, dass der Unternehmensbegriff erneut zu eng sei. Vielmehr sollten alle anderen potentiell in Frage kommenden Unternehmen durch eine Generalklausel erfasst werden (ErläutRV 1234 BlgNR 20. GP 35 f ).
[28] 2.5. In der älteren, noch vor Aufnahme der Generalklausel in Nr 38 der Anlage 1 ergangenen Rsp wurde mehrfach ausgeführt, bei den erfassten Unternehmen handle es sich um solche, die nach durchschnittlicher Betrachtung und im Regelfall ein erhöhtes Ansteckungsrisiko mit sich bringen. So wurde zu einem Zollwachebeamten, der eine Hepatitis B-Infektion erlitt (10 ObS 159/88 SSV-NF 2/88), sowie zu einem mit Tuberkulose infizierten Sicherheitswachebeamten (10 ObS 175/88) ausgeführt, Angehörige dieser Berufsgruppen hätten es im Regelfall mit gesunden Personen zu tun; der Kontakt mit allenfalls Infizierten beschränke sich auf eine kurz eingegrenzte Zeit. Einem solchen Risiko seien aber alle Erwerbstätigen ausgesetzt, die in intensivem, ständigem Kontakt mit anderen Menschen stehen.
[29] 2.6. Ausgehend von diesen Urteilen wurde in der Entscheidung 10 ObS 74/16d SSV-NF 30/47 zur Berufskrankheit Nr 46 (durch Zeckenbiss übertragbare Krankheiten, beschränkt auf „Unternehmen der Land- und Forstwirtschaft sowie auf Tätigkeiten in Unternehmen, bei denen eine ähnliche Gefährdung besteht“) bei der Prüfung der Generalklausel der Nr 46 darauf abgestellt, dass die gegenüber einem Infektionsrisiko im privaten Bereich besonders erhöhte Gefahr eines Zeckenbisses von in der Land- und Forstwirtschaft tätigen Personen auf dem besonderen zeitlichen Ausmaß der Tätigkeit im Freiland beruht. Dieses Gefahrenelement des besonderen Ausmaßes der Tätigkeit im Freien sah der OGH bei einem Hubschrauberpiloten, der etwa 33 Stunden pro Monat Personen im Freiland zu bergen hatte, nicht als erfüllt an.
[30] 2.7. Müller weist darauf hin, dass allen drei Entscheidungen ein quantitativer Ansatz zugrunde liegt, der die Expositionsdauer in den Mittelpunkt stellt (vgl Müller in Müller/Mosler/Pfeil, SV-Komm [273. Lfg 2020] § 177 Rz 19).
[31] 2.8. Tomandl hebt zum besonderen Schutz von Schulen und Justizanstalten hervor, dass es dabei – da keine Altersbeschränkung im Hinblick auf Kinderkrankheiten angeordnet sei und es auch Schulen für Erwachsene gebe – in Wahrheit um „das ständige Zusammentreffen mit einer großen Anzahl anderer Menschen, die möglicherweise ansteckende Krankheiten haben“ gehe. Dann müssten aus Gleichheitsgründen auch andere Typen von Unternehmen, in denen ähnliche Verhältnisse vorliegen, ebenfalls erfasst sein, wie etwa Einrichtungen zur sportlichen Betreuung von Kindern oder „Betreuungsstellen“. Der Schutz könne aber nicht auf Personengruppen ausgedehnt werden, die bei ihrer Tätigkeit einem bedeutend geringeren Risiko als die geschützte Personengruppe ausgesetzt seien (Tomandl in Tomandl/Felten [37. Lfg 2021] Pkt 2.3.2. [275]; Gebhardt/Perktold, Covid-19: Berufskrankheit und Arbeitsunfall, SozSi 2022, 60 [61 f ]).
[32] Nach Tomandl ist darüber hinaus – ungeachtet der Zugehörigkeit eines Unternehmens zu den in der Aufzählung der Nr 38 enthaltenen geschützten Unternehmen, wohl auch im Fall eines Unternehmens mit „vergleichbarer Gefährdung“ – eine einschränkende Auslegung vorzunehmen, die auf die konkrete Tätigkeit des Versicherten abstellt: So sollen etwa Infektionskrankheiten des Verwaltungspersonals von Krankenanstalten, Schulen und dergleichen, das mit den Patienten oder den Kindern nicht in Kontakt kommt, keine Berufskrankheiten iSd Nr 38 sein. Sei eine Person aber der besonderen Ansteckungsgefahr tatsächlich ausgesetzt gewesen, wie etwa ein externer Handwerker, der in einer Krankenanstalt tätig werde, dürfe es nicht auf die Dauer der Exposition ankommen (Tomandl in Tomandl/Felten [37. Lfg] Pkt 2.3.2. [275]).
[33] 2.9. Nach dem hier zu beurteilenden Sachverhalt liegt der von Tomandl angesprochene Fall, 38 dass ein Versicherter in einem von der Aufzählung der Nr 38 Anlage 1 zum ASVG erfassten Unternehmen konkret keiner erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt ist, nicht vor. Zu beurteilen ist hier vielmehr, ob es sich beim Unternehmen des Kl um ein solches handelt, in dem eine „vergleichbare Gefährdung besteht“. Dass der Kl der mit seiner Unternehmensorganisation einhergehenden Infektionsgefahr (die entweder als „vergleichbar“ oder nicht iSd Nr 38 zu qualifizieren ist) auch tatsächlich ausgesetzt war, ist hingegen nicht zweifelhaft.
[34] 2.10. Vertreten wird, dass es sich bei „der vergleichbaren Gefährdung“ (Bischofreiter, Unfallversicherungsschutz bei Covid-19, DRdA-infas 2022, 416) bzw bei der Frage, ob „bei einer Tätigkeit in einem nicht explizit genannten Unternehmen eine vergleichbare Gefährdung vorliegt“ (Panhölzl/Bischofreiter in Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2022, 117 [120]), um eine durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zu klärende Frage handle (vgl Schneider, Methodik der Beurteilung von Berufskrankheiten an den Beispielen BK Nr. 25 und 38, DAG 2021, 135 [138]).
[35] Bei der Subsumtion unter die Generalklausel der Nr 38 Anlage 1 zum ASVG handelt es sich allerdings stets um einen Akt der rechtlichen Beurteilung. Dabei kommt es darauf an, die vom Gesetzgeber als wesentlich erachteten typischen Gefahren, die der Aufnahme bestimmter Unternehmen in die Liste der Nr 38 zugrunde liegen, zu identifizieren und in wertender Betrachtung dem konkret zu beurteilenden Unternehmenstyp gegenüber zu stellen. [...]
[45] 4.1. Aus der Gegenüberstellung der deutschen und der österreichischen Rechtslage kann Folgendes gewonnen werden:
[46] Die Generalklausel der Nr 38 Anlage 1 zum ASVG unterscheidet sich von der in der deutschen Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) enthaltenen Generalklausel dadurch, dass die österreichische Regelung auf Unternehmen abstellt, in denen eine vergleichbare Gefährdung besteht, wohingegen die Generalklausel der BKV auf Tätigkeiten abstellt. Der Umstand, dass Nr 38 Anlage 1 zum ASVG auf Unternehmen mit vergleichbarem Risiko, aber nicht auf Tätigkeiten abstellt, macht es erforderlich, unabhängig von der konkreten Tätigkeit des Versicherten die Gefährdung im Unternehmen zu betrachten (dies nicht differenzierend Gerstl-Fladerer in Wolf/Schneider/Gerstl-Fladerer, Berufskrankheiten [2012] 438 f ).
[47] 4.2. Im Hinblick auf die rechtlich definierten Infektions-Risikobereiche umfasst die österreichische Regelung ausdrücklich einen weiter gezogenen Risikobereich als die deutsche „Parallel“- Regelung, indem (ua) auch Schulen in der Liste der geschützten Unternehmen angeführt sind. Dabei ist davon auszugehen, dass das besondere Infektionsrisiko an Schulen aus dem Zusammenkommen einer Vielzahl von Personen an einem Ort mit einem länger dauernden Aufenthalt in Innenräumen zum Zweck des Unterrichts resultiert.
[48] 4.3. In einem privaten Nachhilfeinstitut wie dem vom Kl betriebenen treten die gleichen Risikofaktoren für die Übertragung von Infektionskrankheiten auf, allerdings in geringerer quantitativer Ausprägung bzw Intensität.
[49] Schulklassen bestehen typischerweise aus einer größeren Schülerzahl als die vom Kl unterrichteten Gruppen von bis zu fünf Schülerinnen und Schülern, sodass Lehrerinnen und Lehrer, die die gleiche Stundenzahl wie der Kl unterrichten, insgesamt mit einer größeren Zahl von Schülerinnen und Schülern zusammentreffen.
[50] Soweit der Revisionswerber rügt, dass das Berufungsgericht ohne Erörterung mit den Parteien von einer üblichen Klassengröße an Schulen von rund 20 Schülerinnen und Schülern ausgegangen ist, wird keine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens aufgezeigt. In der Revision wird nämlich nicht dargetan, welches konkrete Vorbringen zur Klassengröße an Schulen der Kl im Fall einer Erörterung erstattet hätte, sodass die Relevanz des behaupteten Verfahrensmangels nicht ersichtlich ist (vgl RS0120056 [T2, T7, T8]; RS0037095 [T4, T5, T14]).
[51] 4.4. Der maßgebliche Unterschied in der abstrakten Exponiertheit eines Lehrers bzw einer Lehrerin an einer Schule gegenüber Infektionskrankheiten im Vergleich zu der abstrakt mit der Tätigkeit als Unterrichtender an einem Nachhilfeinstitut wie jenem des Kl verbundenen Risikosituation besteht in der Zahl der insgesamt im Gebäude und in den jeweiligen Unterrichtsräumen zusammenkommenden Personen. Aus diesem Unterschied ergibt sich eine geringere generellabstrakte Gefährdung eines Versicherten, der in einem privaten Lerninstitut wie jenem des Kl tätig ist, gegenüber der Tätigkeit von Versicherten an einer Schule.
[52] Es fehlt daher im vorliegenden Fall an einem „Unternehmen, in [dem] eine vergleichbare Gefährdung besteht“ iSd Nr 38 Anlage 1 zum ASVG, sodass die Qualifikation der COVID-19-Erkrankung des Kl als Berufskrankheit schon aus diesem Grund ausscheidet. Auf die konkrete Infektionsgefahr durch die Anwesenheit von mit COVID-19 infizierten Schülerinnen in einer der vom Kl unterrichteten Gruppen kommt es daher nicht an.
[53] 4.5. Das Berufungsgericht nahm auf die COVID- 19-Schulverordnung 2020/21 (BGBl II 2020/384) Bezug und stellte eine hypothetische Hälfte-Teilung von Klassen der Unterrichtsorganisation im Lerninstitut des Kl gegenüber; es erblickte auch unter Zugrundelegung halbierter Klassengrößen an Schulen im Lerninstitut des Kl kein Unternehmen mit vergleichbarer Gefährdung iSd Nr 38 Anlage 1 zum ASVG. In der Revision wird demgegenüber auf die Anordnung von ortsungebundenem Unterricht gem § 6 COVID-19-Schulverordnung 2020/21 verwiesen. Dabei handelt es sich jedoch um eine Maßnahme, die gem § 6 iVm § 3 Z 2 COVID-19-Schulverordnung 2020/21 eine entsprechende Entscheidung der zuständigen Gesundheitsbehörde gem § 18 Epidemiegesetz im Einzelfall voraussetzt.
[54] In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass die Nr 38 Anlage 1 zum ASVG Schulen als Einrichtungen einstuft, die ihrer Typizität nach für die dort tätigen Versicherten ein erhöhtes Risiko der Ansteckung mit Infektionskrankheiten mit sich 39
bringen. Die in der Revision angesprochene Möglichkeit der Anordnung von ortsungebundenem Unterricht an einzelnen Schulen aufgrund individueller Behördenentscheidungen (§ 6 iVm § 3 Z 2 COVID-19-Schulverordnung 2020/21) führt nicht dazu, dass für die Beurteilung des Vorliegens einer „vergleichbaren Gefährdung“ auf jene Schulen abzustellen ist, die aufgrund individueller behördlicher Anordnung von derartigen Anordnungen betroffen sind. Auf die Frage, welche Auswirkungen die Durchführung von Distanzunterricht an Schulen für die dort tätigen Versicherten im Hinblick auf Nr 38 Anlage 1 zum ASVG hat, muss im vorliegenden Fall nicht eingegangen werden.
[55] 5. Die behaupteten Verfahrensmängel wurden geprüft, sie liegen nicht vor. Für die Beurteilung des vorliegenden Falls ist weder die konkrete Ausgestaltung der Räumlichkeiten des Lerninstituts relevant noch die Anzahl der im gesamten Bundesgebiet gemeldeten Corona-Infektionen oder der „Grad der Durchseuchung des versicherten Tätigkeitsbereichs“. Im vorliegenden Fall scheitert die Qualifikation der COVID-19-Erkrankung des Kl als Berufskrankheit, wie ausgeführt, bereits an der (abstrakten) Qualifikation des Lerninstituts des Kl als Unternehmen, in dem eine vergleichbare Gefährdung wie in den in Nr 38 Anlage 1 zum ASVG aufgezählten Unternehmen besteht. [...]
In der vorliegenden E beschäftigt sich der OGH mit der Frage, unter welchen Bedingungen eine Infektion mit COVID-19 als abstrakte Berufskrankheit iSd § 177 Abs 1 ASVG zu qualifizieren ist. Anders als in den unlängst ergangenen Beschlüssen (OGH 17.1.2023, 10 ObS 108/22p und OGH 22.11.2022, 10 ObS 132/22t), in denen es bereits am Nachweis der Kausalität zwischen Erkrankung und beruflicher Tätigkeit scheiterte (dazu 4.), konnte sich das Höchstgericht erstmals auch inhaltlich mit der Thematik beschäftigen. Den Schwerpunkt der E bildet die Untersuchung, wie die in Nr 38 der Anlage 1 zum ASVG enthaltene Formulierung „Unternehmen, in denen eine vergleichbare Gefährdung besteht“ auszulegen ist. Da in Zukunft mit einer steigenden Zahl an Versicherten zu rechnen ist, die zwar nicht in einem der ausdrücklich aufgezählten Unternehmen der Nr 38 tätig sind, aber dennoch an (Langzeit-)Folgen einer COVID- 19-Infektion leiden, ist ein besseres Verständnis dieses vom Gesetzgeber verwendeten Begriffs von zentraler Bedeutung.
Der Kl ist als Nachhilfelehrer in seinem privaten Nachhilfeinstitut tätig. Sechs Tage, nachdem er im November 2020 eine Gruppe von drei Schülerinnen unterrichtet hatte, wurde er positiv auf COVID-19 getestet. Eine dieser Schülerinnen hatte bereits im Zeitpunkt des Unterrichts Symptome einer Erkrankung, auch bei einem zweiten Mädchen wurde in Folge eine Corona-Infektion nachgewiesen. Die SV der Selbständigen sprach mit Bescheid aus, dass die Gesundheitsstörung nicht Folge einer Berufskrankheit sei. Der Kl hingegen behauptet, dass es sich bei einem Nachhilfeinstitut um ein „Unternehmen mit ähnlicher Gefährdung“ iSd Nr 38 Anlage 1 zum ASVG handle und die Infektion daher als Berufskrankheit iSv § 177 Abs 1 ASVG zu qualifizieren sei.
Nr 38 Anlage 1 zum ASVG nennt neben den ausdrücklich aufgezählten Unternehmen, wie etwa Krankenhäuser oder Schulen, auch „Unternehmen, in denen eine vergleichbare Gefährdung besteht“. Laut den Materialien (ErläutRV 1234 BlgNR 20. GP 35 f ) stellt diese Formulierung eine Generalklausel dar, da Infektionskrankheiten auch in Unternehmen, die nicht in der Liste aufgeführt sind, in denen aber eine vergleichbare Gefährdung besteht, auftreten können. Ziel ist es daher, alle in Frage kommenden Unternehmen zu erfassen, ohne die Liste ständig punktuell erweitern zu müssen. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers erfasst diese Generalklausel etwa den Bereich der Müllentsorgung oder Labore, in denen Blutderivate erzeugt werden. Die ältere Rsp (vgl etwa OGH 6.9.1988, 10 ObS 159/88, 10 ObS 175/88) hat ausgeführt, dass es sich um solche Unternehmen handelt, die „nach durchschnittlicher Betrachtung und im Regelfall ein erhöhtes Ansteckungsrisiko mit sich bringen“. In der E OGH10 ObS 74/16d vom 19.7.2016 spricht der OGH in Bezug auf eine Borreliose-Infektion nach Nr 46 der Anlage 1 von einem besonderen Gefahrenelement der Tätigkeit, welches es zu identifizieren gelte. Bei einem Zecken biss ist dieses beispielsweise im besonderen zeitlichen Ausmaß der Tätigkeit im Freiland festzumachen.
Die Aufgabe des Höchstgerichts im vorliegenden Fall ist es nun, dieses besondere Gefahrenelement auszumachen. Dabei sind die vom Gesetzgeber als wesentlich erachteten typischen Gefahren, die der Aufnahme bestimmter Unternehmen in die Auflistung der Nr 38 zugrunde liegen, zu identifizieren und in wertender Betrachtung dem konkret zu beurteilenden Unternehmenstyp gegenüber zu stellen. Diese Frage ist zwar in erster Linie durch die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zu klären, im Endeffekt ist die Subsumtion unter die Generalklausel aber ein Akt der rechtlichen Beurteilung (Födermayr, Strukturfragen der österreichischen gesetzlichen Sozialversicherung – Zustand nach Covid-19, DRdA 2023, 190 [194]).
Im vorliegenden Fall beschäftigt sich der OGH mit den Gründen für ein erhöhtes Infektionsrisiko an Schulen, dieses sei im Zusammenkommen einer Vielzahl von Personen an einem Ort mit einem länger dauernden Aufenthalt in Innenräumen zum Zweck des Unterrichts auszumachen. In einem privaten Nachhilfeinstitut hingegen treten zwar die gleichen Risikofaktoren auf, allerdings – aufgrund der geringeren Anzahl von Schüler:innen – in geringerer quantitativer Ausprägung bzw Intensität. Die abstrakte Exponiertheit der Lehrkraft in einer Schule sei daher der maßgebliche Unterschied 40 zwischen Schulen und privaten Nachhilfe instituten. Aus diesem Grund ist ein Nachhilfeinstitut nicht als Unternehmen, in dem eine vergleichbare Gefährdung besteht, zu qualifizieren.
Nr 38 soll jenen Personen einen Schutz bieten, die aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit in besonderer Ansteckungsgefahr schweben. Allerdings ist die Art der Gefährdung abhängig von der Art des aufgezählten Unternehmens (ähnlich bereits Marcian, Covid-19 als Berufskrankheit, DRdA-infas 2022, 142 [143]). Zum einen werden in der Aufzählung Krankenhäuser, Heil- und Pflegeanstalten, Entbindungsheime und sonstige Anstalten, die Personen zur Kur und Pflege aufnehmen, genannt. Das besondere Infektionsrisiko in dieser Gruppe von Unternehmen liegt in der Behandlung von kranken Menschen. Dazu gehören naturgemäß auch Patienten, die an ansteckenden Infektionskrankheiten leiden. Der Gesetzgeber anerkennt, dass das Personal aufgrund der Behandlung von (infektiösen) Patienten auch einer erhöhten Gefahr der Infektion mit genau diesen Krankheiten ausgesetzt ist. Zum anderen finden sich in der Aufzählung der Nr 38 Kindergärten und Säuglingskrippen, Schulen und Justizanstalten. In den Materialien (ErläutRV 1059 BlgNR 11. GP 28) wird dahingehend ausgeführt, dass die Gefahr der Ansteckung mit Kinderkrankheiten, aber auch mit Tuberkulose und Darminfektion für diese Gruppen besonders groß sei. Diese Intention spiegelt sich jedoch nicht in der Formulierung der Nr 38 wider, die auch diesen Unternehmen einen Unfallversicherungsschutz bei allen Arten von Infektionen bietet. Diesen Wertungswiderspruch erkennt Tomandl (in Tomandl/Felten [Hrsg], System 2.3.2 FN 40), der kritisiert, dass sich der Schutz in Schulen nicht nur auf Kinderkrankheiten beschränken kann, denn „ansonsten hätte der Gesetzgeber entweder eine Altersbeschränkung einführen oder Schulen für Erwachsene ausnehmen müssen“. Tomandl vermutet den wahren Grund des Schutzes von Schulen im ständigen Zusammentreffen mit einer großen Anzahl anderer Menschen, die möglicherweise ansteckende Krankheiten haben, kritisiert diesen aber aufgrund der „Einengung auf diese besonderen Typen von Unternehmen (...) als gleichheitswidrig (...)“.
ME ist die Nr 38 dahingehend zu verstehen, dass der Gesetzgeber zwei verschiedene Situationen im Blick hatte: Zum einen die Exposition von Krankenhauspersonal mit ansteckenden Krankheiten durch kranke Patienten, zum anderen geht es um den Schutz von Menschen in der Kinderbetreuung, die zwar grundsätzlich mit gesunden Menschen arbeiten, aber einem erhöhten Infektionsrisiko bezüglich übertragbarer Kinderkrankheiten, Tuberkulose sowie Darminfektionen ausgesetzt sind. Den Sinn des besonderen Schutzes von Mitarbeiter:innen in Justizanstalten zu erblicken, ist hingegen, darin sei Tomandl recht gegeben, schwierig. In den Materialien findet sich dazu nur, dass „ähnliche Überlegungen“ für diese gelten müssten und dass die Initiative für deren Aufnahme auf das BM für Justiz zurückzuführen sei. Dies könnte einerseits auf die These Tomandls hindeuten, dass der Gesetzgeber wirklich nur das Zusammenkommen von vielen Menschen über einen längeren Zeitraum in geschlossenen Räumen im Blick hatte. Andererseits darf auch den Materialien kein zu hoher Stellenwert eingeräumt werden, lässt sich doch herauslesen, dass die Justizanstalten nachträglich, durch Intervention des Justizministeriums, „hineingerutscht“ sind. Die in den Materialien vorgenommene Präzisierung (Schutz vor Kinderkrankheiten) hat im Gesetzestext selbst keine Berücksichtigung gefunden. Aus diesem Grund ist hinsichtlich der Art der Infektion nicht zu unterscheiden, alle Arten von Ansteckungen mit übertragbaren Krankheiten sind erfasst. Wie der OGH auch in der vorliegenden Rechtssache festhält, ist dies vom Gesetzgeber intendiert und auch nicht gleichheitswidrig.
Die Aussage des OGH, dass es bei der zweiten Gruppe der in Nr 38 enthaltenen Unternehmen um die Zusammenkunft von Menschen über längere Zeit zu Zwecken des Unterrichts geht, ist dahingehend hilfreich, lässt jedoch Fragen offen. Während es naheliegend erscheint, dass in der Lehre tätige Universitätsangehörige sich – abhängig von der unterrichteten Gruppenanzahl – auf die Generalklausel der Nr 38 Anlage 1 zum ASVG berufen werden können, ist mE nicht klar, wie es um Musikschulen, Sportvereine und ähnliche Institutionen bestellt ist, wird doch auch von diesen eine Art von Unterricht vermittelt. Auch die genaue Anzahl von unterrichteten Personen, die für die Qualifikation als ausreichend erachtet wird, wird die Gerichte noch beschäftigen.
Aufgrund des Umstands, dass im vorliegenden Sachverhalt kein Unternehmen mit ähnlicher Gefährdung vorliegt, endet die inhaltliche Prüfung auch an dieser Stelle. Aber auch die grundsätzliche Annahme der Vergleichbarkeit allein würde für die Qualifikation als Berufskrankheit noch nicht ausreichen. Vielmehr ist ein weiterer Schritt zu prüfen, nämlich ob die Infektion durch Ausübung der versicherten Beschäftigung erfolgt ist (Födermayr, DRdA 2023, 194). Voraussetzung für die Anerkennung als Berufskrankheit ist daher, dass die Erkrankung des Versicherten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die betrieblichen Einwirkungen zurückzuführen ist (RIS-Justiz RS0084375). Dafür genügt nach stRsp (RIS-Justiz RS0110571, erstmals ausdrücklich OGH 12.2.2002, 10 ObS 398/01d) der sogenannte modifizierte Anscheinsbeweis.
Im Sozialrecht wird als modifizierter Anscheinsbeweis eine Beweisverschiebung zugunsten des Kl verstanden, dh dieser hat einen typischen Kausalverlauf, konkret also eine innerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung liegende Infektion während Ausübung der versicherten Beschäftigung, nachzuweisen. Der Unfallversicherungsträger hingegen muss beweisen, dass ein atypischer Verlauf zumindest gleich wahrscheinlich ist wie der nach allgemeiner 41 Erfahrung anzunehmende (instruktiv Pfalz, Ungeklärter Sturz vom Monowheel ist kein Arbeitsunfall, DRdA 2021/45, 432 [435 f , EAnm]). Im Zusammenhang mit COVID-19 sind auch die kürzlich ergangenen Entscheidungen 10 ObS 108/22p und 10 ObS 132/22t zu erwähnen. In beiden Fällen wandten sich die Kl gegen die Beweiswürdigung der Berufungsgerichte. Der OGH hielt diesbezüglich jedoch fest, dass das Ergebnis dieser Beweiswürdigung in letzter Instanz nicht mehr überprüfbar ist.
Nach Ansicht der Lehre (Födermayr, DRdA 2023, 194; Bischofreiter, Unfallversicherungsschutz bei Covid-19, DRdA-infas 2022, 416 [418]) können für den Anscheinsbeweis etwa die Nennung einer konkreten Indexperson oder der Nachweis einer hohen Anzahl infizierter Personen im betroffenen Unternehmen herangezogen werden. Da die Regierung mittlerweile das offizielle Contact Tracing vollständig aufgegeben hat und erkrankte Personen nicht mehr zur Meldung verpflichtet sind, könnte dies zu einer Erschwerung auf Beweisebene führen. Schließlich wird es für eine an COVID-19 erkrankte Person nur mehr schwer nachzuvollziehen sein, wo – ob während Ausübung der beruflichen Tätigkeit oder im privaten Kontext – sie sich angesteckt hat.
Die Ausführungen des OGH sind sowohl im Ergebnis als auch hinsichtlich der – sehr ausführlichen und genauen – Begründung überzeugend. Im Hinblick auf die wohl stetig zunehmende Anzahl an Fällen, in denen eine Berufskrankheit aufgrund einer Infektion mit COVID-19 geltend gemacht werden könnte, sind klare Vorgaben zum Inhalt der in Nr 38 Anlage enthaltenen Generalklausel unerlässlich.