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Selbstversicherung in der Pensionsversicherung bei Pflege eines behinderten Kindes – Überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft erforderlich?

ElisabethBischofreiter

Zur Erfüllung der überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft nach § 18a ASVG ist bei Nichtvorliegen einer der in § 18a Abs 3 ASVG ausdrücklich genannten Situationen ein Betreuungsbedarf des Kindes erforderlich, der dem Maßstab der „ständigen persönlichen Hilfe und besonderen Pflege“ nach Umfang und Art jedenfalls gleichkommt.

Sachverhalt

Die Mitbeteiligte beantragte für die Pflege ihrer 1994 geborenen, nicht bettlägerigen Tochter eine Selbstversicherung nach §§ 18a iVm 669 Abs 3 ASVG. Mit Bescheid vom 1.3.2020 sprach die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) aus, dass der Antrag abgelehnt werde, da die Arbeitskraft der Mitbeteiligten durch die Pflege des Kindes nicht überwiegend beansprucht werde.

Verfahren und Entscheidung

Infolge der Beschwerde der Mitbeteiligten hob das BVwG den Bescheid auf und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die PVA zurück.

Der VwGH erachtete die Revision der Beschwerdegegnerin für zulässig und hob den angefochtenen Beschluss des BVwG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf.

Originalzitate aus der Entscheidung

[…]

4 Zur Begründung führte das BVwG aus, ein Anspruch auf Selbstversicherung gemäß § 18a Abs 1 ASVG setze voraus, dass die Arbeitskraft der Antragstellerin bzw des Antragstellers überwiegend beansprucht werde. Dies sei gemäß § 18a Abs 3 Z 2 ASVG jedenfalls der Fall, solange das behinderte Kind während der Dauer der allgemeinen Schulpflicht wegen Schulunfähigkeit (§ 15 des Schulpflichtgesetzes 1985) entweder von der allgemeinen Schulpflicht befreit sei oder ständiger persönlicher Hilfe und besonderer Pflege bedürfe. Nach Vollendung der allgemeinen Schulpflicht und vor Vollendung des 40. Lebensjahres setze dies voraus, dass das behinderte Kind entweder dauernd bettlägerig sei oder ständiger persönlicher Hilfe und besonderer Pflege bedürfe.

5 […] Mit dem Wort „jedenfalls“ im Einleitungssatz des § 18a Abs 3 ASVG […] habe der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass neben den in Z 1 bis 3 aufgezählten, „speziell für behinderte Kinder zugeschnittenen“ Kriterien eine überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft auch auf andere Weise gegeben sein könne […]. Die in Abs 3 leg cit getroffenen Regelungen seien nicht mehr taxativ zu verstehen […], sondern formulierten gleichsam beispielhafte „Mindeststandards“ […]. Insofern könne daher auch eine zeitliche Inanspruchnahme durch die Pflege in einem Ausmaß anspruchsbegründend wirken, das zwar nicht einer ständigen persönlichen Hilfe und besonderen Pflege im Sinne des § 18a Abs 3 ASVG entspreche, aber dennoch eine überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft der pflegenden Person bewirke.

[…]

16 […] Das Vorliegen des solcherart anspruchsbegründenden Kriteriums der „überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft“ sei bei einem durchschnittlichen Pflegeaufwand ab 21 Stunden wöchentlich bzw. ab 90 Stunden monatlich (entspricht mehr als der halben Normalarbeitszeit) anzunehmen und in seinem zeitlichen Ausmaß an Hand der Einstufungsverordnung zu ermitteln und festzustellen. Das dem Bescheid der PVA vorangehende Verfahren habe insofern keine „ausreichenden brauchbaren Ermittlungsergebnisse geliefert“, als die PVA „jegliche Ermittlungstätigkeit“ unterlassen habe, „um an Hand der Einstufungsverordnung festzustellen, ob der Pflege- und Betreuungsaufwand der [Mitbeteiligten] die maßgebliche von 90 Stunden monatlich überschritten“ habe.

17 Dazu ist Folgendes auszuführen: […]

18 Die durch das […] SVAG, BGBl 2/2015BGBl 2/2015, vorgenommene Änderung des § 18a ASVG wurde in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage mit folgenden Ausführungen näher begründet […]:

„[…]

Die Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege eines behinderten Kindes nach § 18a ASVG soll an die Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege naher Angehöriger nach § 18b ASVG angeglichen werden, und zwar im Hinblick auf die Zulässigkeit der Ausübung einer Erwerbstätigkeit neben der Pflege und die Höhe der relevanten Beitragsgrundlage für diese Versicherung.

[…]

Für die Betroffenen werden durch diese Maßnahme Verbesserungen in zweifacher Hinsicht erreicht:

Zum einen wird die Möglichkeit einer die Selbstversicherung nicht ausschließenden Erwerbstätigkeit neben der Pflege eröffnet, zum anderen wird die Beitragsgrundlage auf das Niveau der §18b-Selbstversicherung angehoben. […]

Künftig gilt für die Selbstversicherung auf Grund der Pflege eines behinderten Kindes nach § 18a ASVG, dass lediglich eine überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft der Pflegeperson vorliegen muss. Aus diesem Grund sind die detaillierten Regelungen über die gänzliche Beanspruchung der Arbeitskraft nach § 18a Abs 3 ASVG entsprechend zu adaptieren.“

[…]104

20 Aus den wiedergegebenen parlamentarischen Materialien ergibt sich, dass es bei Erlassung des SVAG, BGBl 2/2015BGBl 2/2015, die Absicht des Gesetzgebers war sicherzustellen, dass eine Erwerbstätigkeit der betreuenden Person einer Selbstversicherung für Zeiten der Betreuung eines behinderten Kindes […] grundsätzlich nicht entgegensteht. Im Normtext wurde dies zum einen mittels Ersetzung des Erfordernisses der „gänzlichen“ Beanspruchung der Arbeitskraft des/der Betreuenden durch eine Anknüpfung an die „überwiegende Beanspruchung“ und zum anderen im Wege der Streichung des Ausschlusskriteriums nach § 18a Abs 2 Z 1 ASVG zum Ausdruck gebracht.

21 Dass zusätzlich auch beabsichtigt gewesen wäre, die in der gesetzlichen Umschreibung von Umfang und Art des objektiv bei einem Kind vorliegenden Betreuungsbedarfs zum Ausdruck kommende Abgrenzung des Kreises behinderter Kinder, für deren Betreuung die Selbstversicherung nach § 18a (Abs 3) ASVG in Betracht kommen kann, in maßgeblicher Weise zu ändern bzw auszuweiten, lassen diese Erläuterungen hingegen nicht erkennen.

22 Aus dem Wortlaut des § 18a Abs 3 ASVG folgt nichts Gegenteiliges. Wenngleich der Einleitungssatz dieses Absatzes die Aufzählung von Tatbeständen, bei deren Verwirklichung eine entsprechende (in der novellierten Fassung als „überwiegend“ bezeichnete) Beanspruchung der Arbeitskraft vorliegt […], nunmehr mit dem Wort „jedenfalls“ beginnt und die Aufzählung somit nicht mehr taxativ zu verstehen ist, ist weiterhin im Hinblick auf die objektive Betreuungsbedürftigkeit des betreuten Kindes von einem Betreuungsbedarf auszugehen, der dem Maßstab der „ständigen persönlichen Hilfe und besonderen Pflege“ nach Umfang und Art jedenfalls gleichkommt […].

[…]

24 Weiterhin ist daher auch nach der durch das SVAG, BGBl 2/2015BGBl 2/2015, novellierten Fassung des § 18a ASVG ein entsprechender objektiver Betreuungsbedarf des Kindes zu ermitteln. Ist dieser nach Art oder Umfang zu verneinen, erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit dem Ausmaß der Inanspruchnahme des Betreuenden durch die Pflegeleistungen von vornherein.

25 Ist der entsprechende Betreuungsbedarf des Kindes hingegen zu bejahen, gilt […] die gesetzliche Vermutung, derzufolge die Arbeitskraft der Pflegeperson durch die Pflege auf jeden Fall gänzlich in Anspruch genommen ist und diese Beanspruchung daher von der Behörde nicht gesondert zu untersuchen ist […]. Voraussetzung ist jedoch […] auch für die Beurteilung anderer als der in den drei Ziffern des § 18a Abs 3 ASVG ausdrücklich genannten Situationen, dass der sich aus der Behinderung des Kindes ergebende objektive Betreuungsbedarf des Kindes dem einer „ständigen persönlichen Hilfe und besonderen Pflege“ nach Umfang und Art gleichkommt. Dabei kann die tatsächliche Inanspruchnahme der die Selbstversicherung beanspruchenden Person einbezogen werden.

[…]

27 Dass die in der zitierten Rechtsprechung aufgezeigten Voraussetzungen einer Aufhebung und Zurückverweisung erfüllt gewesen wären, ist im Revisionsfall auch sonst nicht zu sehen. Die PVA hat im verwaltungsbehördlichen Verfahren ein ärztliches Gutachten eingeholt, in dem unter Heranziehung der Angaben im Antrag (wonach Betreuungsleistungen der Mitbeteiligten das Haare waschen und Amtswege beträfen) und vorgelegter Befunde sowie nach persönlicher Untersuchung der Tochter der Mitbeteiligten Näheres, vor allem zu einzelnen der primär in Frage kommenden, für die Beurteilung einer Betreuungsbedürftigkeit relevanten Aspekte erhoben und die Erforderlichkeit einer behinderungsbedingten „ständige[n] (regelmäßige[n]) persönliche[n] Hilfe und besondere[n] Pflege“ unter diesen Aspekten jeweils verneint wurde. Wenn die PVA bei diesem Stand der Ermittlungen keine weiteren Ermittlungsschritte gesetzt hat, kann darin keine „krasse bzw. besonders gravierende Ermittlungslücke“ im Sinne der Rechtsprechung gesehen werden, die das BVwG nicht, allenfalls im Zusammenhalt mit einer durchzuführenden Verhandlung (§ 24 VwGVG), vervollständigen hätte können.

Erläuterung

Seit dem Sozialversicherungsanpassungsgesetz – SVAG, BGBl 2015/2BGBl 2015/2 – ist für die Inanspruchnahme einer Selbstversicherung wegen Pflege eines behinderten Kindes keine gänzliche Beanspruchung der Arbeitskraft mehr erforderlich, sondern eine überwiegende Beanspruchung ausreichend. Zweck dieser Novellierung war die Angleichung an die Selbstversicherung wegen Pflege eines nahen Angehörigen, indem die Ausübung einer Erwerbstätigkeit auch neben der Pflege eines behinderten Kindes ermöglicht wird.

Der VwGH hat mit gegenständlicher E erstmals klargestellt, dass auch seit dem SVAG eine der in § 18a Abs 3 ASVG normierten Alternativvoraussetzungen zur Erfüllung der überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft vorliegen muss. Sofern daher während der Dauer der allgemeinen Schulpflicht keine Schulunfähigkeit bzw nach Vollendung der allgemeinen Schulpflicht und vor Vollendung des 40. Lebensjahres keine dauernde Bettlägerigkeit vorliegt oder vor Vollendung des 40. Lebensjahres keine ständige persönliche Hilfe und besondere Pflege erforderlich ist, scheidet eine Selbstversicherung nach § 18a ASVG mangels überwiegender Beanspruchung der Arbeitskraft aus.

Gestützt wird diese Rechtsansicht primär auf die Gesetzesmaterialien, die nicht zum Ausdruck bringen würden, dass durch die Gesetzesnovelle der Umfang und die Art des objektiv bei einem Kind vorliegenden Betreuungsbedarfs in maßgeblicher Weise geändert bzw ausgeweitert werden sollte. Zum anderen wird auf Stimmen aus der Lehre ver105wiesen, die zu dem gleichen Auslegungsergebnis gelangen und ausführen, dass auch für die Beurteilung anderer als der in den drei Ziffern des § 18a Abs 3 ASVG ausdrücklich genannten Situationen, die ständige persönliche Hilfe und besondere Pflege als Maßstab dient, wobei der Begriff „ständig“ wegen der sachlichen Nähe zum Pflegegeld nur iSd § 5 EinstV verstanden werden könne, wonach ständiger Pflegebedarf vorliegt, wenn dieser täglich oder zumindest mehrmals wöchentlich regelmäßig gegeben ist (Pfeil in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 18a ASVG Rz 10).

Der VwGH hält in dieser E fest, dass es sich bei der Regelung im Abs 3 um keine taxative Auflistung mehr handelt, sondern um eine bloß demonstrative Aufzählung. Der Gesetzgeber habe bei Einführung der überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft in § 18a ASVG (anstatt der gänzlichen Beanspruchung) den Begriff „jedenfalls“ in Abs 3 aufgenommen. Schwer nachvollziehbar bleibt allerdings die abschließende Schlussfolgerung des VwGH, wonach bei Beurteilung anderer Situationen ein der „persönlichen Hilfe und besonderer Pflege“ nach Umfang und Art gleichkommender Pflegebedarf vorliegen müsse. In allen drei Ziffern wird nämlich der Bedarf nach „ständiger persönlicher Hilfe und besonderer Pflege“ ohnehin als Anspruchsvoraussetzung (Z 1) oder Alternativvoraussetzung (Z 2 und 3) formuliert. Es fragt sich dann aber, worin sich diese demonstrative Aufzählung von der taxativen im Ergebnis tatsächlich unterscheidet.