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COVID-19-Infektion von externer Schulpsychologin – Berufskrankheit?

FabianGamper

Der reine Wortlaut des § 177 Abs 1 ASVG iVm der Nr 38 der Anlage 1 erfasst alle Beschäftigungen in den dort genannten Unternehmen, ohne dass zwischen bestimmten Gruppen von Beschäftigten, verschiedenen Tätigkeiten oder einzelnen Sparten unterschieden wird.

SACHVERHALT

Die Kl ist bei einem Verein beschäftigt und über diesen in einem Viertel der Schulen Oberösterreichs als Schulpsychologin tätig. Am 11.10.2020 traten erste Symptome auf, am 12.10.2020 wurde sie positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Davor war sie am 6.10. und 8.10.2020 für zahlreiche Gespräche mit Schülern in einer Neuen Mittelschule, einem BG/BRG und einer berufsbildenden Schule. Die Gesprächstermine dauerten zwischen 15 bis 50 Minuten. Zusätzlich zu den Terminen wurden spontane Gespräche mit Schülern und Lehrerinnen in den Gängen oder anderen frequentierten Plätzen durchgeführt. Bei Gesprächen trug die Kl ein Gesichtsschild. FFP-2-Masken waren zu diesem Zeitpunkt nicht vorgeschrieben, eine regelmäßige Testung an den Schulen erfolgte im Oktober 2020 noch nicht.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Bekl hat mit Bescheid vom 18.6.2021 ausgesprochen, dass die Erkrankung der Kl nicht als Berufskrankheit anerkannt werde und kein Anspruch auf Leistungen aus der UV bestehe.

Mit der Klage wird einerseits die Feststellung, dass es sich bei der Erkrankung um eine Berufskrankheit handelt und andererseits die Bekl zur Leistung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß zu verpflichten, begehrt. Das Erstgericht wies die Klage ab, weil eine außerberufliche Ansteckung gleich wahrscheinlich sei, wie eine Ansteckung in einer der Schulen. Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. Es wurde zwar ein Kausalzusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit und der Ansteckung betreffenden Stoffsammlungsmangels bejaht, dieser habe jedoch keine Relevanz, weil die Regelung in Nr 38 der Anlage 1 in zweifacher Weise inkonsistent sei: Einerseits sind nicht alle Beschäftigten in den dort genannten Unternehmen einem erhöhten Risiko ausgesetzt, zum anderen ist die Gefahr einer Ansteckung auch nicht in allen Schulen gleich. Die Bestimmung sei einschränkend auszulegen. Hinsichtlich der Schulen wolle der Gesetzgeber nur das Lehrpersonal schützen.

Die dagegen gerichtete ordentliche Revision ist zulässig, da höchstgerichtliche Rsp zu der Frage, ob jede oder nur bestimmte, risikoreiche Tätigkeiten in einem der in Nr 38 der Anlage 1 bezeichneten Unternehmen als Beschäftigung iSd § 177 Abs 1 ASVG zu qualifizieren sei, gefehlt hat. ISd Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen ist die ordentliche Revision auch berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[19] 2.3. Mit der 23. ASVG-Novelle (BGBl 1969/17) wurden Kindergärten, Säuglingskrippen, Justizanstalten und Schulen in die Liste der von der Nr 38 der Anlage 1 erfassten Unternehmen aufgenommen, was damit begründet wurde, dass auch die in diesen Einrichtungen beschäftigten Personen einer erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt seien. Konkret sei für das Personal von Kindergärten und Säuglingskrippen die Gefahr der Ansteckung mit Kinderkrankheiten, aber auch mit Tuberkulose und Darminfektionen besonders groß; ähnliche Überlegungen würden auch für Lehrpersonen und Bedienstete in Justizanstalten gelten. […] Der Oberste Gerichtshof hat dazu schon ausgesprochen, dass das besondere Infektionsrisiko an Schulen aus dem Zusammenkommen einer Vielzahl von Personen an einem Ort mit einem länger dauernden Aufenthalt in Innenräumen resultiert (10 ObS 149/22t [Rz 47]).

[20] 3. Der reine Wortlaut des § 177 Abs 1 ASVG iVm der Nr 38 der Anlage 1 erfasst alle Beschäftigungen in den dort genannten Unternehmen, ohne dass zwischen bestimmten Gruppen von Beschäftigten, verschiedenen Tätigkeiten oder einzelnen Sparten unterschieden wird. Die vom Berufungsgericht vorgenommene Einschränkung auf bestimmte, mit einem deutlich erhöhten Infektionsrisiko verbundene Tätigkeiten innerhalb eines geschützten Unternehmens ließe sich daher nur durch eine teleologische Reduktion erzielen. Das setzt voraus, dass eine nach dem klaren Gesetzeszweck erforderliche Ausnahme fehlt (RS0008979), was jedenfalls in dem vom Berufungsgericht angenommenen Umfang aber nicht der Fall ist.

[21] 3.1. […] Tomandl (in Tomandl/Felten, System des österreichischen Sozialversicherungsrechts Pkt 2.3.2. [275]) verweist darauf, dass die gesetzliche Regelung gleichzeitig zu eng und zu weit sei. Zu eng, weil auch in anderen als den genannten Unternehmen eine vergleichbare Ansteckungsgefahr bestehe, zu weit, weil nicht alle in den geschützten Unternehmen Beschäftigten einem besonderen Ansteckungsrisiko ausgesetzt seien. Die Nr 38 der Anlage 1 berechtige daher nicht zur Annahme, davon werde etwa auch das Verwaltungspersonal etwa in Schulen erfasst, das mit den Schülern nicht unmittelbar in Kontakt komme. Hausfremde Professionisten seien dagegen geschützt, sofern sie durch ihre Tätigkeit gezwungen sind, sich der im Listenunternehmen bestehenden besonderen Ansteckungsgefahr auszusetzen, unabhängig davon, wie lange die Exposition gedauert 109 hat. […] Schneider führt dazu das Beispiel eines externen Handwerkers an, der im Aufenthaltsraum eines Kindergartens oder im Patientenzimmer eines Krankenhauses arbeitet und deshalb Versicherungsschutz genieße. Nach Gerstl-Fladerer […] sei überhaupt immer zu prüfen, welche konkrete Tätigkeit der Betroffene ausübt und ob er dadurch einer besonderen Gefahr ausgesetzt war.

[22] 3.2. Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs zu dieser Frage liegen nicht vor.

[23] 3.3. Das Oberlandesgericht Wien als seinerzeitiges Höchstgericht in Sozialversicherungssachen qualifizierte vor Einführung der Generalklausel in Nr 38 der Anlage 1 […] Krankenkassen insoweit als Einrichtung des Gesundheitsdienstes iSd Spalte 3 der Nr 38 Anlage 1, als sie etwa Ambulatorien betrieben und nicht bloß die ihnen zukommenden Verwaltungsagenden wahrnahmen (SSV 7/17). Demgemäß erstreckte es den Versicherungsschutz auf eine Assistentin im Zahnambulatorium einer Krankenkasse, die auch am Behandlungsstuhl tätig war (SVSlg 23.140), nicht aber auf Beschäftigte in der ärztlichen Abrechnungsstelle (SSV 16/76) oder im Bürodienst (SVSlg 18.191).

[24] 3.4. Das (deutsche) Bundessozialgericht judiziert zur – der Nr 38 Anlage 1 entsprechenden – Berufskrankheit 3101, dass von dieser das gesamte in den geschützten Unternehmen tätige Personal einschließlich des Hauspersonals und Verwaltungsangestellten erfasst sind […].

[25] 4. Der Oberste Gerichtshof hat sich erst unlängst eingehend mit der Nr 38 der Anlage 1 befasst. […] Es wurde jedoch (allgemein) klargestellt, dass die Nr 38 der Anlage 1 darauf abzielt, Personen einen Schutz zu bieten, die wegen ihrer Erwerbstätigkeit in einem der dort bezeichneten Unternehmen in einer besonderen Ansteckungsgefahr schweben. In die Spalte 3 der Nr 38 der Anlage 1 sind daher Einrichtungen genannt, die ihrer Typizität nach für die dort Beschäftigten ein erhöhtes Risiko der Ansteckung mit Infektionskrankheiten mit sich bringen (10 ObS 149/22t [Rz 24 und 54]).

[26] Vor dem Hintergrund dieses Gesetzeszwecks ist die vom Berufungsgericht in den Vordergrund gestellte besonders hohe Ansteckungsgefahr konsequenterweise kein Tatbestandsmerkmal der Regelung. Das im Vergleich zur allgemein bestehenden Ansteckungsgefahr signifikant höhere Infektionsrisiko ist vielmehr der Grund für die Aufnahme bestimmter Unternehmen in die Spalte 3 der Nr 38 der Anlage 1. Geschützt werden die Versicherten daher nicht, weil sie eine spezielle gefahrenträchtige Tätigkeit ausüben, sondern (bereits) deshalb, weil sie bei generell-abstrakter Betrachtung in einem gefahrenträchtigen Unternehmen beschäftigt sind. Dieses Konzept kommt nicht nur in dem vom Berufungsgericht angeführten Umstand zum Ausdruck, dass die „Lehrerpersonen“ jeder Schule, also auch einer BHS oder eines Oberstufengymnasiums geschützt sind, obwohl die Gefahr einer Ansteckung dort ungleich geringer ist als in Säuglingskrippen, Kindergärten oder Volksschulen. Es spiegelt sich auch in der Generalklausel der Nr 38 der Anlage 1 wider, die – anders als die deutsche BK 3101 – auf andere Unternehmen und nicht auf andere Tätigkeiten mit vergleichbarer Gefährdung abstellt. Ein eindeutig für die vom Berufungsgericht und im Ergebnis auch von Gerstl-Fladerer vorgenommene Differenzierung sprechender Gesetzeszweck ist vor diesem Hintergrund nicht zu erkennen. Ohne weitere (gegenteilige) Anhaltspunkte ergibt sich ein solcher auch nicht allein daraus, dass in den Materialien zur 23. ASVG-Novelle von „Lehrpersonen“ die Rede ist, sodass die Voraussetzungen für eine teleologische Reduktion der Nr 38 der Anlage 1 dahingehend, betreffend Schulen sollten nur die Lehrer erfasst werden, insgesamt nicht gegeben sind.

[27] Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass auf Basis des Gesetzeswortlauts grundsätzlich alle in einem geschützten Unternehmen Beschäftigten unabhängig von ihrer konkreten Tätigkeit Versicherungsschutz genießen.

[28] 5. Dieses Ergebnis steht einer teleologischen Reduktion im Sinn der Ausführungen von Tomandl – und letztlich auch im Sinn der vormaligen Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Wien […] – nicht generell entgegen. Nach der Auffassung von Tomandl ist nämlich nicht auf ein tatsächlich höheres oder niedrigeres Risiko der Tätigkeit abzustellen. Vielmehr sollen nur solche (ganz eindeutigen) Fälle vom Versicherungsschutz ausgenommen werden, bei denen der Betroffene dem Risiko einer Infektion gar nicht ausgesetzt ist, nicht aber Beschäftigte – wie externe Handwerker –, deren Tätigkeit es bedingt, dass sie mit der abstrakten Ansteckungsgefahr auch nur kurz in Berührung kommen. Ob eine teleologische Reduktion in dem von Tomandl angesprochenen „Randbereich“ angezeigt ist, muss im Fall der Klägerin aber nicht entschieden werden, weil die von ihr ausgeübte Tätigkeit nicht diesem Bereich zuzuordnen ist. Sie ist auch nicht mit einer jener Tätigkeiten vergleichbar, die das Oberlandesgericht Wien seinerzeit als nicht vom Versicherungsschutz erfasst angesehen hat:

[29] Sie stand zwar nicht in einem Dienstverhältnis zu den Schulbetreibern. […] Der direkte Kontakt mit den Schülern war der primäre Inhalt ihrer Tätigkeit und keine bloß zufällige Begleiterscheinung, wie das etwa bei dem vom Berufungsgericht angeführten Verwaltungspersonal eventuell der Fall sein kann. Aufgrund ihrer Tätigkeit in einem der in Spalte 3 der Nr 38 der Anlage 1 genannten Unternehmen genießt sie daher entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts grundsätzlich Versicherungsschutz.

[30] 6. Voraussetzung für die Anerkennung als Berufskrankheit ist jedoch, dass ihre Erkrankung auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die betrieblichen Einwirkungen zurückzuführen ist […]. Ob das der Fall ist, kann derzeit aber nicht beurteilt werden, weil die Frage der Kausalität noch nicht definitiv geklärt ist. 110

ERLÄUTERUNG

Als Berufskrankheiten gelten gem § 177 Abs 1 ASVG die in der Anlage 1 („Berufskrankheitenliste“) angeführten Krankheiten unter den dort angeführten Voraussetzungen und wenn sie durch die versicherte Beschäftigung in einem der in Spalte 3 genannten Unternehmen verursacht wurden. Auch die sogenannte Generalklausel in Abs 2 leg cit ermöglicht nur eine Anerkenntnis von Krankheiten, die ausschließlich oder überwiegend auf die berufsbedingte Verwendung schädigender Stoffe oder Strahlen zurückzuführen sind. Hinsichtlich des lückenhaften Schutzes hat der OGH betreffend die Generalklausel bereits klargestellt: „Der Wortlaut des […] zeigen klar, dass der Gesetzgeber der 32. ASVG-Novelle mit der Schaffung dieser Normen nicht auf eine Lückenlosigkeit des Systems zielte, in dem jede irgendwie mit der Berufstätigkeit in Zusammenhang stehende Krankheit als Berufskrankheit anzuerkennen ist. Nach Auffassung des Senats liegt die Entscheidung für ein nicht auf Lückenlosigkeit abzielendes Regelungssystem der Berufskrankheiten im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Sozialversicherungsgesetzgebers (RS0120384).

Die Anerkennung einer Krankheit als Berufskrankheit ist somit nur im angeführten, teilweise engen Rahmen möglich. Findet sich eine Krankheit auf der Berufskrankheitenliste, schließt dies die Generalklausel aus. COVID-19 ist unter Nr 38 der Berufskrankheitenliste als „Infektionskrankheit“ zu subsumieren. Infektionen sind nur als Berufskrankheit geschützt, wenn diese auf eine Beschäftigung in Krankenhäusern, Heil- und Pflegeanstalten, Entbindungsheimen und sonstigen Anstalten, die Personen zur Kur und Pflege aufnehmen, öffentlichen Apotheken, ferner Einrichtungen und Beschäftigungen in der öffentlichen und privaten Fürsorge, in Schulen, Kindergärten und Säuglingskrippen und im Gesundheitsdienst sowie in Laboratorien für wissenschaftliche und medizinische Untersuchungen und Versuche sowie in Justizanstalten und Hafträumen der Verwaltungsbehörden bzw in Unternehmen, in denen eine vergleichbare Gefährdung besteht, eintreten.

In der gegenständlichen E musste sich der OGH mit der Frage auseinandersetzen, ob alle Beschäftigten in den genannten Unternehmen umfasst sind, oder nur solche, bei denen ein erhöhtes Risiko für den Eintritt des Versicherungsfalls – hier Ansteckung mit COVID-19 – vorliegt. Anders als das deutsche Bundessozialgericht, welches alle Beschäftigten, unabhängig vom konkreten Risiko als vom Versicherungsschutz umfasst sieht, nimmt der OGH eine differenziertere Position ein: Grundsätzlich sind alle Beschäftigten in den genannten Unternehmen geschützt. Für das Vorliegen des Versicherungsschutzes kommt es nicht darauf an, ob der Versicherte in einem Dienstverhältnis zum geschützten Unternehmen stand. Somit können auch externe Dienstleister, wie beispielsweise Handwerker, geschützt sein. Nach Ansicht des OGH sollten jedoch die Beschäftigten ausgenommen werden, bei denen das Risiko gar nicht vorliegt (sogenannter „Randbereich“). Eine Gewichtung nach unterschiedlichen Risken innerhalb des geschützten Unternehmens oder im Vergleich zur Allgemeinheit soll hinsichtlich der Anwendbarkeit der Berufskrankheit nicht erfolgen.

Die Ausführungen des OGH führen zwar zu einer gewissen Klarstellung, dennoch bedingt die beschriebene differenzierte Betrachtungsweise eine gewisse Rechtsunsicherheit im Einzelfall, da geprüft werden muss, ob eine Beschäftigung dem Randbereich zuzuordnen ist.