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Kein Anspruch auf Waisenpension wegen Erwerbsunfähigkeit für einen in „Blindenberufen“ einsetzbaren blinden Versicherten

Pia AndreaZhang

Erwerbsunfähigkeit liegt ua vor, wenn eine Erwerbstätigkeit nur bei besonderem Entgegenkommen des DG möglich ist. Ob der Kl auf ein solches besonderes Entgegenkommen des DG angewiesen wäre, ist eine Rechtsfrage.

Die Existenz von „Blindenberufen“ zeigt, dass auch Blinde und ebenso fast Blinde in der Lage sind, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorkommende Berufe auszuüben, ohne dass durchwegs ein besonderes Entgegenkommen des DG erforderlich wäre; gewisse behinderungsbedingte Einschränkungen werden im Allgemeinen in der Wirtschaft toleriert.

Dass ein DG einen Antrag auf Förderung für spezielle Arbeitsplatzeinrichtungen stellen muss, stellt für sich genommen noch kein besonderes Entgegenkommen dar.

Sachverhalt

Der 1979 geborene Kl ist seit seiner frühesten Kindheit auf beiden Augen blind. Sein verbliebenes Restsehvermögen ermöglicht ihm eine grobe Orientierung. In den letzten Jahren erkrankte er zusätzlich an der Hornhaut. Der Grad der Behinderung des Kl beträgt laut Bundessozialamt 100 % und er bezieht Pflegegeld der Stufe 4.

Der Kl schloss ein Integrationsgymnasium ab und absolvierte eine Fachhochschule für Gesundheits- und Sozialberufe sowie eine Ausbildung zum EDV-Trainer. Ab März 2000 war er versicherungspflichtig erwerbstätig, zuerst als EDV-Trainer und später als Angestellter im Bürowesen. Alle bisherigen Beschäftigungen 111 waren aufgrund einer Lohnförderung im Ausmaß von zumindest 50 % des Bruttolohns, die den Nachteil der geringeren Arbeitsgeschwindigkeit des Kl kompensiert, möglich. Sein Arbeitsplatz wurde durch Zurverfügungstellen der erforderlichen Hard- und Software, aller Peripheriegeräte und Softwareprogramme speziell adaptiert.

Verfahren und Entscheidung

Nach dem Tod seiner Mutter am 10.6.2018 beantragte der Kl eine Waisenpension, was von der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) mit Bescheid vom 27.11.2018 abgelehnt wurde, weil er nicht erwerbsunfähig sei. Dagegen erhob er Klage und brachte vor, er sei aufgrund seiner hochgradigen Sehbehinderung nie erwerbsfähig gewesen, weshalb er die Kindeseigenschaft erfülle und Anspruch auf Waisenpension habe. Die PVA wandte ein, dass beim Kl ein Leistungskalkül für Blindenberufe am allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe. Der Kl habe auch in der Vergangenheit immer wieder einen Verdienst über der Erwerbslosigkeitsgrenze erzielt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren auch im dritten Rechtsgang ab, wogegen der Kl Berufung einbrachte.

Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge und ging davon aus, dass der Kl bloß aufgrund seiner Blindheit im Leistungskalkül eingeschränkt sei, weshalb ihm sehr wohl Tätigkeiten am Arbeitsmarkt zumutbar seien. Im Bereich der Tätigkeiten, die eine „Visusleistung“ erfordern, wäre seine Arbeitsgeschwindigkeit auf 25 % reduziert, bei allen anderen Tätigkeiten sei von einer mit Sehenden vergleichbaren Arbeitsgeschwindigkeit auszugehen. Seine Arbeitsfähigkeit entspreche der einer gesunden und erblindeten Person, was sich auch durch die Hornhauterkrankung nicht geändert habe. Alle bisher im Bürowesen verrichteten Tätigkeiten seien ihm daher, unter der Voraussetzung eines speziell zugerichteten Arbeitsplatzes, weiterhin möglich.

Die beim Kl bestehenden Leistungsbeschränken seien immer schon vorhanden gewesen und Blinde seien grundsätzlich von den meisten Tätigkeiten am Arbeitsmarkt faktisch ausgeschlossen. Dies gelte jedoch nicht für „Blindenberufe“, bei denen eine entsprechende Arbeitsplatzeinrichtung erforderlich ist, die vom AG zur Verfügung gestellt werden müsse. Diesbezüglich gebe es zahlreiche Fördermöglichkeiten. Blinde weisen grundsätzlich einen Invaliditätsgrad von 100 % auf und es falle Blinden grundsätzlich sehr schwer, tatsächlich einen Arbeitsplatz zu finden. Mit Unterstützung von Trägereinrichtungen müsste es für den Kl allerdings möglich sein, eine geeignete Arbeitsstelle zu finden. Insgesamt stünden dem Kl österreichweit deutlich mehr als 100 Arbeitsplätze zur Verfügung, die seinem Leistungskalkül entsprechen. Die notwendigen speziellen Arbeitsplatzeinrichtungen seien weitestgehend von Fördermöglichkeiten abgedeckt und die marginale Reduktion der Arbeitsgeschwindigkeit werde toleriert. In der Gesamtbetrachtung sei der Kl daher nicht auf ein Entgegenkommen des AG angewiesen. Er sei daher nicht erwerbsunfähig und erfüllt daher auch nicht die Kindeseigenschaft nach § 252 Abs 2 Z 3 ASVG.

Die Revision des Kl, mit der er die Stattgebung der Klage beantragte, ist zulässig, jedoch nicht berechtigt.

Originalzitate aus der Entscheidung

„1. Nach ständiger Rechtsprechung ist erwerbsunfähig im Sinn des § 252 Abs 2 Z 3 ASVG, wer infolge Krankheit oder Gebrechens nicht imstande ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Verdienst zu erzielen (RS0085536). […]

2.1 In der Vorentscheidung 10 ObS 131/20t hat der Oberste Gerichtshof ausgeführt (Rz 20), dass es bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit nach § 252 Abs 2 Z 3 ASVG darauf ankommt, ob das Kind auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einem Erwerb nachgehen kann. Ausschlaggebend für den Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinn dieser Bestimmung sind ausschließlich medizinische Gesichtspunkte. […]

2.2 Nach den Feststellungen sind dem Kläger jedenfalls im Zeitpunkt des Todes seiner Mutter (§ 86 Abs 3 Z 1 ASVG) trotz seiner durch seine Blindheit verursachten medizinischen Leistungseinschränkungen die festgestellten Erwerbstätigkeiten möglich. Dies stellt der Kläger – bezogen auf die maßgeblichen medizinischen Gesichtspunkte – in der Revision auch nicht in Frage. […]

3.1 Erwerbsunfähigkeit liegt weiters vor, wenn eine Erwerbstätigkeit nur unter der Voraussetzung möglich ist, dass der Dienstgeber dem Erwerbstätigen, über den auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblichen Rahmen hinaus entgegenkommt (10 ObS 59/16y SSV-NF 30/44, Pkt 2.5). Ob der Kläger auf ein solches besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers angewiesen wäre, ist eine Rechtsfrage (vgl zur Möglichkeit der Ausübung einer Verweisungstätigkeit 10 ObS 201/01h SSV-NF 15/96; 10 ObS 81/15g SSV-NF 30/14 Pkt 4.).

3.2 Bereits in der bisherigen Rechtsprechung zum Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ist anerkannt, dass die Existenz von „Blindenberufen“ zeigt, dass auch Blinde und ebenso fast Blinde in der Lage sind, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorkommende Berufe auszuüben, ohne dass durchwegs ein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers erforderlich wäre […].

3.3 Der Revisionswerber zielt mit seinen Ausführungen, er könne die festgestellten Erwerbstätigkeiten nur auf dem „zweiten“, nicht aber auf dem „ersten“ (dem allgemeinen) Arbeitsmarkt ausüben, darauf ab, dass er eines besonderen Entgegenkommens des Dienstgebers zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit bedürfe. Damit weicht die Revision aber in unzulässiger Weise von den Feststellungen ab, nach 112 denen die Kosten der Arbeitsplatzeinrichtung über Förderungsmöglichkeiten für den jeweiligen Dienstgeber im Wesentlichen abgedeckt werden, sodass den Dienstgeber insofern selbst keine Kostenbelastung trifft. […] Der bloße von ihm ins Treffen geführte Umstand, dass ein potenzieller Dienstgeber des Klägers einen entsprechenden Antrag auf Förderung stellen muss, stellt für sich genommen noch kein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers dar; verpflichtet doch der Gesetzgeber gemäß § 1 Abs 1 BEinstG Dienstgeber, die im Bundesgebiet 25 oder mehr Dienstnehmer beschäftigen, auf je 25 Dienstnehmer mindestens einen begünstigten Behinderten – wie etwa den Kläger – einzustellen.

3.4 Übt der Kläger eine telefonische Beratungstätigkeit aus, so tritt nur eine minimale Verlangsamung der Arbeitsgeschwindigkeit von etwa 10 % ein, dies samt Bedienung der Telefonanlage. Der rechtlichen Beurteilung des Berufungsgerichts, dass eine derartige, bloß gering verringerte Arbeitsgeschwindigkeit im Allgemeinen von der Wirtschaft toleriert wird und mehr als 100 Arbeitsplätze mit diesen Anforderungen zur Verfügung stehen, tritt der Revisionswerber nicht entgegen. Soweit er auf die Notwendigkeit einer persönlichen Assistenz hinweist, ist ihm entgegenzuhalten, dass mehr als 100 Blindenarbeitsplätze nach den Feststellungen existieren, an denen der Kläger keine persönliche Assistenz benötigt.

4. Zusammengefasst ist dem Kläger zum Zeitpunkt des Todes seiner Mutter die Ausübung einer Erwerbstätigkeit, bei der er einen nennenswerten Verdienst erzielen kann, nach medizinischen Gesichtspunkten zumutbar, ohne dass dabei sein Leidenszustand negativ beeinflusst wird und ohne die Notwendigkeit eines Entgegenkommens des Dienstgebers über den auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblichen Rahmen hinaus, sodass das Berufungsgericht seinen Anspruch auf Waisenpension zutreffend verneint hat. […]“

Erläuterung

Anspruch auf Waisenpension haben gem § 260 ASVG nach dem Tode des (der) Versicherten die Kinder iSd § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 und Abs 2 ASVG. Nach § 252 Abs 2 Z 3 ASVG besteht die Kindeseigenschaft auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres weiter, wenn das Kind infolge von Krankheit oder Gebrechen erwerbsunfähig ist.

Die Erwerbsunfähigkeit wird nach stRsp des OGH rein medizinisch beurteilt. Erwerbsunfähigkeit liegt vor, wenn ein Versicherter aus medizinischen Gründen nicht in der Lage ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Verdienst zu erzielen. Dies gilt auch, wenn eine Erwerbstätigkeit auf Kosten der Gesundheit des Versicherten oder nur mit besonderem Entgegenkommen des DG verrichtet werden kann. Blinde Versicherte sind jedoch nach stRsp des OGH nicht automatisch auf ein besonderes Entgegenkommen des DG angewiesen, da es sogenannten „Blindenberufe“ gibt, die ihnen auch mit dieser gesundheitlichen Einschränkung zumutbar sind (zB Telefonist:in). Gewisse behinderungsbedingte Einschränkungen würden in der Wirtschaft im Allgemeinen toleriert.

Im konkreten Fall wurde nun im dritten Rechtsgang das Leistungskalkül des Kl umfassend festgestellt, wobei ihm die genannten „Blindenberufe“ zumutbar sind. Der OGH sieht es nicht als Entgegenkommen des DG, dass dieser Förderanträge für spezielle Arbeitsplatzeinrichtungen oder ähnliches ausfüllen müsste und begründet dies insb damit, dass AG ab einer bestimmten Mitarbeiter:innenanzahl bereits gesetzlich dazu verpflichtet sind, einen begünstigten Behinderten einzustellen. Auch hinsichtlich der Arbeitsgeschwindigkeit des Kl bedarf es keines besonderen Entgegenkommens des DG, da diese beispielsweise bei telefonischer Beratungstätigkeiten bloß rund 10 % langsamer ist als bei sehenden Mitarbeiter:innen. Zur persönlichen Assistenz führt der OGH aus, dass es mehr als 100 Blindenarbeitsplätze gibt, die keine persönliche Assistenz benötigen.

Dass der Kl für die Arbeitsplatzsuche auf die Hilfe von Trägereinrichtungen angewiesen ist und eine reguläre Arbeitsvermittlung für Blinde in der Regel nicht in Frage kommt, ist nach Ansicht des OGH für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit nicht relevant.