56Gleitzeit: Zurechnung von Zeitschulden zur Sphäre des Arbeitgebers bei fehlender Möglichkeit zur Abarbeitung von Minusstunden
Gleitzeit: Zurechnung von Zeitschulden zur Sphäre des Arbeitgebers bei fehlender Möglichkeit zur Abarbeitung von Minusstunden
Eine Änderung des dispositiven § 1155 ABGB zu Lasten des AN ist an § 879 Abs 1 ABGB zu messen. Macht es der AG durch die Einteilung der Arbeit und die Vorgabe, dass mit der Erledigung der zugewiesenen Arbeit die Arbeitszeit endet, dem AN unmöglich, allfällige Minusstunden abzuarbeiten, und hat er trotz Festlegung einer 40-Stunden-Woche über die Besorgung der konkret zugewiesenen Aufgaben hinaus kein Interesse an einer Arbeitsleistung des AN, so ist ein Ausschluss des § 1155 ABGB in diesem Umfang nach § 879 Abs 1 ABGB unwirksam.
Der Kl war von 23.9.2019 bis 4.3.2022 bei der Bekl als Zusteller beschäftigt. Auf das Dienstverhältnis war der KollV für Bedienstete der Österreichischen Post AG (ÖPAG) anzuwenden. Im Arbeitsvertrag des Kl wurde eine wöchentliche Normalarbeitszeit von 40 Stunden festgelegt.
Für Zusteller beim bekl AG gilt eine BV über Gleitende Arbeitszeit/Arbeitszeitdurchrechnung. Hinsichtlich des Gleitzeitrahmens sieht diese BV vor, dass die Mitarbeiter/innen den tatsächlichen Dienstbeginn innerhalb eines Rahmens von -10/+20 Minuten abweichend von dem für ihre Tätigkeit generell in der Zustellbasis festgelegten Dienstbeginn wählen können; das Ende der täglichen Arbeitszeit ergibt sich aus der Einhaltung der (vierstündigen) Kernzeit sowie der vollständigen Erfüllung der ihrem Arbeitsplatz zugewiesenen Aufgaben. Zeitguthaben und Zeitschulden können 1:1 innerhalb einer einmonatigen Gleitzeitperiode ausgeglichen und bis zu einem Ausmaß von +/-150 Stunden in die nächste Gleitzeitperiode übertragen werden. Bei Beendigung des Dienstverhältnisses sind Zeitguthaben nach den einschlägigen gesetzlichen und kollektivvertraglichen Regelungen zu entlohnen, Zeitschulden mit dem Normalstundensatz von den auszuzahlenden Beträgen in Abzug zu bringen.
Der Kl führte seine Zustellungen immer sehr zügig und korrekt durch, sodass er meist eine Stunde früher fertig war. Er hatte daher fortlaufend Minusstunden auf seinem Zeitkonto. Diese Minusstunden wurden immer in die folgenden Gleitzeitperioden übertragen. Anlässlich des Ausscheidens des Kl wurden ihm im Rahmen der Lohnendabrechnung für März 2022 122,48 Minusstunden in Abzug gebracht.
Der Kl begehrte die Auszahlung des einbehaltenen Betrages für die Minusstunden. Der Abzug sei zu Unrecht erfolgt, da etwaige Minusstunden der Sphäre der Bekl zuzurechnen seien. Er habe weder Beginn noch Ende der täglichen Normalarbeitszeit frei wählen können, ein Abbau der negativen Zeitsalden sei ihm de facto nicht möglich gewesen.
Das Erstgericht gab der Klage statt. Die mangelnde Auslastung eines Kl sei der Sphäre des Bekl zuzurechnen. Die BV sei keine Gleitzeitvereinbarung „im eigentlichen Sinn“ und insoweit ungültig.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl nicht Folge. Die Minusstunden seien der Sphäre der Bekl zuzuordnen, da der Kl nicht ausreichend Arbeit zugewiesen erhielt. Selbst wenn man die BV als Gleitzeitvereinbarung und Abbedingung des – an sich dispositiven – § 1155 Abs 1 ABGB deuten würde, so wäre eine solche Vereinbarung nach § 879 ABGB sittenwidrig und damit unwirksam. Die Revision wurde mangels Rsp zur Frage der (allfälligen) Sittenwidrigkeit der einschlägigen Gleitzeitregelung, der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme, zugelassen.
Der OGH erachtete die Revision der Bekl als zulässig, aber nicht berechtigt.
„[15] 1. Nach § 1155 Abs 1 Satz 1 ABGB gebührt dem Dienstnehmer auch für Dienstleistungen, die nicht zustande gekommen sind, das Entgelt, wenn er zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seite des Dienstgebers liegen, daran verhindert worden ist.
[16] 2. Maßgeblich ist, wessen Sphäre der Grund für das Unterbleiben der Arbeitsleistung zuzurechnen ist. Zur Sphäre des Arbeitgebers gehören generell alle die Dienstverhinderung auslösenden Ereignisse und Umstände, welche die Person des Arbeitgebers, sein Unternehmen, Organisation und Ablauf des Betriebes, die Zufuhr von Rohstoffen, Energien und sonstigen Betriebsmitteln, die erforderlichen Arbeitskräfte, die Auftragslage und Absatzlage sowie die rechtliche Zulässigkeit der betrieblichen und unternehmerischen Tätigkeit betreffen (RIS-Justiz RS0021631). 142
[…]
[18] 4. Die Zurechnung zur Sphäre des Arbeitgebers führt dazu, dass der Anspruch auf Entgelt aufrecht bleibt, obwohl keine Arbeitsleistung erbracht wurde. Das bedeutet auch, dass in diesen Fällen eine Rückforderung oder ein Abzug des Entgelts für Minusstunden bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht in Betracht kommt […].
[19] 5. Resultieren bei Beendigung eines Arbeitsverhältnisses verbleibende Minusstunden dagegen aus einer Gleitzeitvereinbarung, nach der der Arbeitnehmer Beginn und Ende seiner täglichen Arbeitszeit während des Gleitzeitrahmens selbst bestimmen kann, wird das Unterbleiben der Arbeitsleistung in der Regel der Sphäre des Arbeitnehmers zuzurechnen sein, da das Entstehen der Minusstunden auf seine eigenbestimmte Zeiteinteilung zurückzuführen ist (vgl Heilegger in Gasteiger/Heilegger/Klein, AZG7 § 19f Rz 2; Posch/Haas, aaO; Schindler in Gruber-Risak/Mazal, Arbeitsrecht Kap XX Rz 26; vgl auch Schrank, Arbeitszeit: Kommentar7 [2023] § 4b AZG Rz 89 zur grundsätzlichen Rückforderbarkeit von Zeitschulden). In diesem Sinne führt auch Jöst aus, dass, da die Zeiteinteilung bei der Gleitzeit vom Arbeitnehmer selbst bestimmt werde, er eine Zeitschuld im Regelfall auch zu vertreten haben werde, sodass der Gehaltsabzug prinzipiell gerechtfertigt erscheine (Jöst in Gruber-Risak/Jöst/Patka [Hrsg], Praxishandbuch Gleitzeit3 [2021] 120). Eine Rückzahlungspflicht bzw Verrechnungsmöglichkeit wird allerdings dann verneint, wenn die Unmöglichkeit des Naturalausgleichs dem Arbeitgeber zuzurechnen ist, etwa bei berechtigtem vorzeitigem Austritt, unberechtigter Entlassung oder Arbeitgeberkündigung, sofern das Einarbeiten der Fehlstunden während der Kündigungsfrist unmöglich oder unzumutbar ist (Schindler in Gruber-Risak/Mazal, Arbeitsrecht Kap XX Rz 26; Sabara, ARD 6012/7/2009; Lindmayr in Schrank/Lindmayr, Handbuch Beendigung Kap 18 Rz 13).
[20] 6. Zu prüfen ist daher zunächst, wessen Sphäre es zuzurechnen ist, dass beim Kläger die Zeitabrechnung am Ende des Arbeitsverhältnisses Minusstunden aufgewiesen hat. Grundsätzlich hatten die Parteien eine Normalarbeitszeit von 40 Stunden festgelegt. Zusätzlich wurde ein „Gleitzeitdurchrechnungsmodell“ vereinbart. Die Dispositionsmöglichkeit des Klägers aufgrund dieser Vereinbarung beschränkte sich allerdings darauf, innerhalb eines Rahmens von -10/+20 Minuten, um einen vorgegebenen Zeitpunkt seinen Arbeitsbeginn festzulegen. Sämtliche anderen Parameter waren von der Beklagten vorgegeben, insbesondere die Zuteilung der zu erledigenden Arbeit (ein bestimmtes Rayon) und das Ende der Arbeitszeit, nämlich die vollständige Erfüllung der zugeordneten Aufgaben. Damit war aber die Dauer der Arbeitsleistung an jedem Tag zwar nicht zeitlich, aber durch die Übertragung der konkreten Arbeitsaufgabe (Zustellung in einem bestimmten Rayon) von der Beklagten vorgegeben und vom Kläger grundsätzlich nicht beeinflussbar.
[…]
[24] 8. Zwar verweist die Beklagte zu Recht darauf, dass der Entgeltanspruch voraussetzt, dass der Arbeitnehmer zur Leistung bereit war. Der Kläger hat allerdings alle ihm übertragenen Aufgaben ordnungsgemäß erledigt. Damit hat er seine Leistungsbereitschaft der Beklagten gegenüber ausreichend zum Ausdruck gebracht. Die im Zusammenhang mit Arbeitsniederlegung verlangte ausdrückliche Erklärung der Arbeitsbereitschaft (8 ObA 23/05y) lässt sich auf den vorliegenden Fall nicht übertragen.
[25] 9. Richtig ist, wie die Revision ausführt, dass § 1155 ABGB dispositiv ist und daher von den Arbeitsvertragsparteien abbedungen werden kann (zuletzt etwa 9 ObA 52/23x mwN). Eine Änderung des § 1155 ABGB zu Lasten des Arbeitnehmers ist jedoch an § 879 Abs 1 ABGB zu messen (Rebhahn in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKom3 [2018] § 1155 ABGB Rz 6 mwN; Rebhahn/Ettmayer in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.04 § 1155 Rz 4). Die Grenze der Abdingbarkeit stellt somit die Sittenwidrigkeit dar.
[…]
[28] 10. Im vorliegenden Fall kann letztlich dahingestellt bleiben, ob die in Pkt 9 der BV vorgesehene Abrechnung überhaupt als Abbedingen des § 1155 ABGB zu verstehen ist und ob die BV – unabhängig davon, ob sie dem AZG unterliegt – eine wirksame Gleitzeitvereinbarung darstellt.
[29] Da die Beklagte es im zuvor aufgezeigten Sinn durch die Einteilung der Arbeit und die Vorgabe, dass mit der Erledigung der zugewiesenen Arbeit die Arbeitszeit endet, dem Kläger im Rahmen der Vereinbarung unmöglich machte, allfällige Minusstunden abzuarbeiten und sie selbst trotz Festlegung einer 40-Stunden-Woche über die Besorgung des konkreten Zustellrayons hinaus kein Interesse an einer Arbeitsleistung des Klägers hatte, wäre ein Ausschluss des § 1155 ABGB in diesem Umfang nach § 879 Abs 1 ABGB unwirksam. Dieser Fall ist letztlich nicht anders zu beurteilen, als die Einteilung des Arbeitnehmers im Rahmen von vom Dienstgeber vorgegebenen Dienstplänen, die es dem Dienstnehmer unmöglich machen, die vereinbarte Stundenzahl zu erreichen. Im vorliegenden Fall bestand zwar keine Zeitvorgabe, aber eine klare Vorgabe des zu erbringenden Arbeitsumfangs, mit dessen Erledigung die Arbeit begrenzt war.“
Das synallagmatische Verhältnis des Arbeitsvertrages regelt im Wesentlichen die Zurverfügungstellung der Arbeitsleistung in einem bestimmten zeitlichen Ausmaß gegen die Leistung eines monatlichen Entgelts. Erfüllt der AN seinen Vertragsteil nicht, indem die vertraglich vereinbarte Normalarbeitszeit nicht erreicht wird, so entsteht ein Ungleichgewicht. Um hier einen gerechten Ausgleich zu erreichen, werden die Konsequenzen daran bemessen, aus wessen Sphäre das Unterbleiben der vollständigen Arbeitsleistung stammt. § 1155 Abs 1 ABGB regelt hier eine Verpflichtung des AG, das volle vertragliche Entgelt auch dann zu bezahlen, 143wenn der AN zur Leistung seiner Arbeit bereit war, aufgrund von Umständen, die der AG-Sphäre zuzurechnen sind, jedoch an deren Leistung verhindert war. Damit soll ua die Abwälzung des Betriebs- und Wirtschaftsrisikos des AG auf den AN verhindert werden.
Die Leistungsbereitschaft des AN ist ein wesentliches Kriterium für den Entgeltanspruch und ist entsprechend nachzuweisen. Der OGH erachtete in diesem Fall die ordnungsgemäße Erfüllung aller übertragenen Aufgaben durch den AN als ausreichend, sodass es keiner darüberhinausgehenden, expliziten Arbeitsbereitschaftserklärung bedurfte.
Die Bestimmung des § 1155 ABGB ist zwar dispositiv, jedoch ist ein vertraglicher Ausschluss stets an den Grenzen der Sittenwidrigkeit zu messen.
Die Besonderheit im vorliegenden Fall bestand darin, dass die Zeitschulden vor dem Hintergrund einer „Gleitzeit-BV“ zustande gekommen waren. Das Wesen einer Gleitzeitregelung gem § 4b AZG besteht darin, dass der AN den Beginn und das Ende seiner Arbeitszeit – innerhalb vertraglich definierter Rahmenbedingungen – selbst bestimmen kann. Es handelt sich dabei um eine Flexibilisierung der Normalarbeitszeit. Die Beurteilung, ob die vertraglich vereinbarte wöchentliche Normalarbeitszeit (durchschnittlich) erbracht wurde, erfolgt dabei nicht am Ende jeder Kalenderwoche, sondern erst am Ende einer vorab definierten Gleitzeitperiode. Ist die wöchentliche Normalarbeitszeit am Ende der Gleitzeitperiode durchschnittlich über- oder unterschritten und ist keine Übertragungsmöglichkeit dieser Salden in die nächste Gleitzeitperiode vorgesehen, so führen die Zeitguthaben bzw -schulden zu einer Abgeltung inklusive entsprechender Zuschläge bzw zu einer Entgeltkürzung. Gleiches gilt bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses während der Gleitzeitperiode. Nachdem der AN seine Arbeitszeit bei vereinbarter Gleitzeit üblicherweise selbst einteilt, ist ihm eine verbleibende Zeitschuld in der Regel auch zurechenbar und ein damit verbundener finanzieller Abzug grundsätzlich zulässig.
Wie der OGH im gegenständlichen Fall entschieden hat, führt die Vereinbarung des Arbeitszeitmodells der Gleitzeit jedoch nicht stets ohne Weiteres dazu, dass tatsächlich von einer Zurechnung der Zeitschulden zur Sphäre des AN ausgegangen werden kann. Wird die faktische Selbstbestimmungsmöglichkeit des AN hinsichtlich der Lagerung und des Ausmaßes der Arbeitszeit durch den AG derart eingeschränkt, dass die Einarbeitung von Minusstunden verunmöglicht wird, so ist die dadurch unterbliebene Arbeitsleistung der Sphäre des AG zuzurechnen. Dabei muss die Einschränkung nicht anhand einer konkreten (unzureichenden) Zeiteinteilung erfolgen, sondern diese kann auch daraus resultieren, dass der AN ein bestimmtes Arbeitskontingent zugewiesen erhält und festgelegt wird, dass die Arbeitszeit mit dieser Erledigung begrenzt ist.
Ob der Abschluss einer Gleitzeitvereinbarung als ein Abbedingen des § 1155 ABGB zu deuten ist, ließ der OGH offen, da ein solcher Ausschluss in der vorliegenden Konstellation jedenfalls als sittenwidrig gem § 879 ABGB zu werten wäre.
Im Ergebnis erfolgte der Abzug der Minusstunden zu Unrecht und war dem Kl der dafür einbehaltene Betrag nach § 1155 Abs 1 ABGB auszubezahlen.