80Haftung des Geschäftsführers für Beitragsschulden: Rechtswidriges Erkenntnis wegen unzureichender Auseinandersetzung mit Parteivorbringen
Haftung des Geschäftsführers für Beitragsschulden: Rechtswidriges Erkenntnis wegen unzureichender Auseinandersetzung mit Parteivorbringen
Das Verwaltungsgericht hat neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen.
Für die Geltendmachung der Haftung eines Vertreters gem § 67 Abs 10 ASVG wegen eines Meldeverstoßes ist von der Behörde bzw. im Beschwerdeverfahren vom Verwaltungsgericht festzustellen, welche Umstände zu welchem Zeitpunkt iSd §§ 33 ff ASVG hätten gemeldet werden müssen und dass diese Meldungen unterblieben sind. Wenn dies feststeht, liegt es beim Meldepflichtigen darzutun, dass ihn aus bestimmten Gründen kein Verschulden an der Unterlassung der Meldung trifft. Das für eine solche Haftung erforderliche Verschulden kann dem Vertreter erst dann und nur insoweit angelastet werden, als er verpflichtet gewesen wäre, bestimmte konkret zu bezeichnende Meldungen zu erstatten, und das Wissen um die Meldepflicht als von seinem Grundwissen umfasst anzusehen oder das Nichtwissen von ihm zu vertreten wäre.
Der Revisionswerber war von Mai bis Dezember 2015 Geschäftsführer der P-GmbH. Über das Vermögen dieses Unternehmens wurde am 11.2.2016 das Konkursverfahren eröffnet. Im Jänner 2019 wurde nach der Schlussverteilung der Konkurs geschlossen und die P-GmbH wegen Vermögenslosigkeit gem § 40 Firmenbuchgesetz (FBG) gelöscht.
Mit Bescheid vom 12.3.2021 verpflichtete die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) den Revisionswerber gem § 67 Abs 10 ASVG Beitragsschulden der P-GmbH aus dem Zeitraum von Mai bis Dezember 2015 samt Nebengebühren, zuzüglich Verzugszinsen zu bezahlen. In der Begründung des Bescheids wurde nur ausgeführt, dass die insolvente P-GmbH aus „den Beiträgen Mai 2015 bis inklusive Dezember 2015 und Meldeverstößen € 105.014,34“ schulde und dass Vertreter von juristischen Personen eine Haftung für Beiträge treffe, soweit diese infolge schuldhafter Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht hereingebracht werden könnten.
In der Beschwerde beantragte der Revisionswerber die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und brachte vor, dass die Höhe der Haftung nicht nachvollziehbar und dem Grunde nach nicht berechtigt sei. Erst im Zuge des Insolvenzverfahrens sei zu Unrecht festgestellt worden, dass der KollV für Handelsarbeiter anzuwenden gewesen sei. Der Revisionswerber sei in diesen Verfahren nicht eingebunden gewesen und ihn treffe kein Verschulden an einer unterbliebenen Meldung.
Das BVwG wies die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei. Es seien nach einer gemeinsamen Prüfung von Lohnabgaben und Beiträgen (GPLA) Meldeverstöße aufgrund unrichtiger kollektivvertraglicher Einstufung der DN festgestellt worden. Die festgestellten offenen Forderungen seien vom Revisionswerber nicht substantiiert bestritten worden. Im Insolvenzverfahren der P-GmbH seien die von der ÖGK angemeldeten Forderungen auch nicht bestritten worden. Eine schuldhafte Pflichtverletzung, die eine Haftung nach § 67 Abs 10 ASVG begründe, sei schon dann zu bejahen, wenn der Vertreter keine Gründe dafür anzugeben vermöge, dass ihm die Erfüllung seiner Verpflichtung, für die Entrichtung der Beiträge zu sorgen, unmöglich gewesen wäre.
Die außerordentliche Revision gegen das Erkenntnis ist zulässig und berechtigt. Das angefochtene Erkenntnis war wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
[…] 20 […] [D]ie Revision [macht] unter dem Gesichtspunkt ihrer Zulässigkeit insbesondere eine Verletzung von Begründungspflichten durch das Bundesverwaltungsgericht und eine Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht der Verwaltungsgerichte geltend.
21 Insoweit erweist sich die Revision als zulässig und berechtigt.
22 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Anforderungen an Form und Inhalt eines verwaltungsgerichtlichen Erkenntnisses erfordert die Begründung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung gemäß § 29 VwGVG (iVm. §§ 58 und 60 AVG) in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt – wobei die bloße Zitierung von Beweisergebnissen (etwa von Zeugenaussagen) nicht hinreichend ist –, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche es im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen 176, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Erkenntnisses geführt haben. Die drei logisch aufeinander aufbauenden und formal zu trennenden Elemente einer ordnungsgemäß begründeten verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bestehen sohin erstens in einer im Indikativ gehaltenen Tatsachenfeststellung, zweitens in der Beweiswürdigung und drittens in der rechtlichen Beurteilung […].
23 Das Verwaltungsgericht hat neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen […].
24 Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht. Der Revision ist insoweit zunächst zuzustimmen, dass – auch vor dem Hintergrund der ausdrücklichen Bestreitung durch den Revisionswerber – eine eindeutige und nachvollziehbare Darstellung der Beiträge zur Sozialversicherung – ihrer Art und ihrer Höhe nach –, hinsichtlich derer der Revisionswerber zur Haftung herangezogen werden soll, sowie der vorgeschriebenen Verzugszinsen fehlt (vgl. zu einer diesen Anforderungen entsprechenden Darstellung etwa VwGH 12.1.2016, Ra 2014/08/0028).
25 Auch hinsichtlich der Gründe, aus denen die Haftung des Revisionswerbers nach § 67 Abs. 10 ASVG abgeleitet wird, bleiben die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes undeutlich und lassen aus den im Folgenden dargelegten Gründen eine ausreichende Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Revisionswerbers vermissen:
26 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Revisionswerber vorgebracht hat, die laufenden Sozialversicherungsbeiträge für die Dienstnehmerinnen und Dienstnehmer der P GmbH seien – ausgehend von der Höhe der Entgelte nach der angenommenen dienst- und kollektivvertraglichen Einstufung – während seiner Tätigkeit als Geschäftsführer von Mai bis Dezember 2015 vollständig beglichen worden. Die Diskrepanz zu den offenen Beiträgen ergebe sich lediglich daraus, dass im Zuge des Insolvenzverfahrens eine andere kollektivvertragliche Einstufung der Beschäftigten angenommen worden sei.
27 Ob dies zutrifft und die offenen Beiträge tatsächlich zur Gänze – oder allenfalls zu einem bestimmten Teil – ihren Grund in einer anderen kollektivvertraglichen Einstufung haben, wird im angefochtenen Erkenntnis – wie auch im Bescheid der ÖGK vom 12. März 2021 – nicht ausdrücklich offengelegt. Das Bundesverwaltungsgericht ist aber erkennbar von einem solchen Grund der offenen Beiträge ausgegangen, soweit es festgestellt hat, bei einer GPLA der P GmbH seien „Meldeverstöße aufgrund unrichtiger kollektivvertraglicher Einstufungen“ von Dienstnehmerinnen und Dienstnehmern festgestellt worden. Im Zuge der rechtlichen Beurteilung hat das Bundesverwaltungsgericht dem Revisionswerber Meldeverstöße vorgeworfen und ihm insoweit nach einem allgemeinen Zitat von Rechtssätzen zu Erkundigungspflichten von Meldepflichtigen vorgehalten, er habe nicht dargelegt, dass er sich „mit allen Momenten der ordnungsgemäßen richtigen kollektivvertraglichen Einstufung“ auseinandergesetzt und „diesbezügliche Ermittlungen getätigt“ hätte. […]
29 Es trifft zu, dass zu den den Vertretern juristischer Personen auferlegten Pflichten, deren schuldhafte Verletzung zu einer Haftung nach § 67 Abs. 10 ASVG führen kann, insbesondere die Meldepflichten nach dem ASVG gehören […]. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist für die Geltendmachung der Haftung eines Vertreters gemäß § 67 Abs. 10 ASVG wegen eines Meldeverstoßes allerdings zunächst von der Behörde bzw. im Beschwerdeverfahren vom Verwaltungsgericht festzustellen, welche Umstände zu welchem Zeitpunkt im Sinn der §§ 33 ff ASVG hätten gemeldet werden müssen und dass diese Meldungen unterblieben sind. Wenn dies feststeht, liegt es beim Meldepflichtigen darzutun, dass ihn aus bestimmten Gründen kein Verschulden an der Unterlassung der Meldung trifft. Das für eine solche Haftung erforderliche Verschulden kann dem Vertreter erst dann und nur insoweit angelastet werden, als er verpflichtet gewesen wäre, bestimmte konkret zu bezeichnende Meldungen zu erstatten, und das Wissen um die Meldepflicht als von seinem Grundwissen umfasst anzusehen oder das Nichtwissen von ihm zu vertreten wäre […].
30 Im vorliegenden Fall käme vor dem dargestellten Hintergrund als Grund für die Haftung nach § 67 Abs. 10 ASVG somit in Betracht, dass von der P GmbH in schuldhafter Verletzung der den Revisionswerber als Geschäftsführer der P GmbH treffenden Verpflichtungen nach §§ 33 ff ASVG die Beschäftigten mit Entgelten angemeldet wurden, die unter denen lagen, auf die sie nach dem anzuwendenden Kollektivvertrag Anspruch gehabt hätten, und daher auch zu geringe Beiträge zur Sozialversicherung abgeführt wurden. Das Bundesverwaltungsgericht hat jedoch Feststellungen, die im Sinn der dargestellten Rechtsprechung die Beurteilung des Bestehens der Haftung ermöglichen, nicht getroffen. Dabei ist zu beachten, dass der Revisionswerber nicht nur der Annahme, es treffe ihn an einer unrichtigen Meldung ein Verschulden, entgegengetreten ist, sondern auch ausdrücklich bestritten hat, dass die kollektivvertragliche Einstufung der Beschäftigten der P GmbH überhaupt unrichtig gewesen wäre und er insoweit eine Meldepflicht verletzt hätte. […]
32 Um im Sinn der Rechtsprechung darzustellen, welche Umstände zu welchem Zeitpunkt im Sinn der §§ 33 ff ASVG gemeldet hätten werden müssen bzw. ob der Revisionswerber tatsächlich – entgegen seiner Bestreitung – schuldhaft die ihn als Geschäftsführer treffenden Meldepflichten verletzt hat, wären daher in einem ersten Schritt Feststellungen zu treffen gewesen, die eine Beurteilung erlauben, welcher Kollektivvertrag im Sinn der §§ 8 ff ArbVG für den Betrieb der P GmbH zur Anwendung kam bzw. ob die kollektivvertragliche Einstufung der Beschäftigten 177tatsächlich unrichtig erfolgte. Dazu wären aufgrund eines vom Bundesverwaltungsgericht auch amtswegig – etwa durch Beischaffung der Ergebnisse der GPLA zur P GmbH sowie Einvernahme von Zeugen und Parteien bzw. sonstige Urkunden – durchzuführenden Beweisverfahrens insbesondere Feststellungen zum Betrieb der P GmbH und zur Tätigkeit der Dienstnehmerinnen und Dienstnehmer dieses Unternehmens im verfahrensgegenständlichen Zeitraum zu treffen und aufgrund dieser Feststellungen die rechtliche Beurteilung der kollektivvertraglichen Einstufung und damit der Entgelte, auf die ein Anspruch bestand, vorzunehmen gewesen. Für den Fall einer sich ergebenden Verletzung der Meldepflichten wäre in einem weiteren Schritt im Sinn der dazu ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes […] zu beurteilen gewesen, ob den Revisionswerber ein Verschulden am Meldeverstoß getroffen hat […].
33 Ausgehend davon ist die Revision ebenso damit im Recht, dass das Verwaltungsgericht in der vorliegenden – „civil rights“ im Sinn des Art. 6 Abs. 1 EMRK betreffenden […] – Rechtssache unter Beachtung des insoweit gestellten Antrages des Revisionswerbers nach § 24 Abs. 4 VwGVG nicht von einer Verhandlung hätte absehen dürfen. Insoweit ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach es im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts gehört, dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer – bei der Geltendmachung von „civil rights“ in der Regel auch von Amts wegen durchzuführenden – mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen […].
Die Haftung des Vertreters gem § 67 Abs 10 ASVG ist als Ausfallshaftung konzipiert. Erst wenn die Beiträge vom Schuldner zumindest teilweise uneinbringlich sind, kann die Haftung des Vertreters geltend gemacht werden. Als haftungsfähige Vertreter gelten jedenfalls die Organmitglieder der gängigen Gesellschaftsformen, aber auch der faktische Geschäftsführer kann die Voraussetzung erfüllen (vgl § 539a ASVG).
§ 67 Abs 10 ASVG sanktioniert nur die schuldhafte Verletzung sozialversicherungsrechtlicher Pflichten, welche im Verwaltungsrechtweg verfolgt bzw bestritten werden kann. Die Geltendmachung von Ansprüchen aufgrund Verletzungen anderer Verpflichtungen erfolgt vor den ordentlichen Gerichten. Unter die sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtungen fallen die Melde-, Zahlungs- und Abfuhrpflicht. Hinsichtlich der schuldhaften Nichtentrichtung von Beiträgen kommt es auf das im Zeitpunkt der Fälligkeit der Beiträge gesetzte Verhalten des Vertreters an.
Im gegenständlichen Fall hat der Revisionswerber ua geltend gemacht, dass ihn an der zu niedrigen Beitragsabfuhr kein Verschulden treffe, da die ursprüngliche kollektivvertragliche Einordnung seines Erachtens korrekt sei, und selbst wenn die Einstufung fehlerhaft gewesen sei, treffe ihn kein Verschulden, da dies erst im Insolvenzverfahren von der Masseverwalterin anerkannt worden sei. Das BVwG hat sich mit diesen Argumenten nicht auseinandergesetzt und darüber hinaus mangelhafte Feststellungen getroffen.