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Anspruch auf Waisenpension wegen Erwerbsunfähigkeit trotz Antragstellung während lehrveranstaltungsfreier Zeit

Hans-JörgTrettler

Der bloße Umstand, dass ein bestimmter Zeitraum nach studienrechtlichen Vorschriften als „lehrveranstaltungsfrei“ bezeichnet wird, schließt die Annahme einer Ausbildung iSd § 252 Abs 2 Z 1 ASVG in diesem Zeitraum – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – nicht aus.

Der bloße Umstand, dass das bisher betriebene Studium zu einem späteren Zeitpunkt nicht fortgesetzt wird, steht einer Qualifikation einer lehrveranstaltungsfreien Zeit als Ausbildung iSd § 252 Abs 2 Z 1 ASVG nicht entgegen.

Sachverhalt

Der 1986 geborene Kl begann am 19.9.2008 das ordentliche Studium der Technischen Physik an der TU Graz und studierte bis zum 30.9.2017. Er war ab dem Wintersemester 2008 bis einschließlich des Sommersemesters 2017 mit Ausnahme des Wintersemesters 2010/2011, in welchem er beurlaubt war und nicht studierte, als ordentlicher Student gemeldet.

Im Laufe des Septembers 2010 erkrankte der Kl an paranoider Schizophrenie (F20.0), was dazu führte, dass er nicht in der Lage war, sein Studium zu betreiben. Infolgedessen ließ er sich im Wintersemester 2010/2011 von seinem Studium beurlauben. Seit dem erstmaligen stationären Aufenthalt des Kl von 23.9.2010 bis 8.10.2010 besteht bei ihm durchgängig bis heute keine Arbeitsfähigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt und eine leidensbedingte regelmäßige Krankenstandsprognose von über sieben Wochen pro Jahr.

Verfahren und Entscheidung

Am 30.11.2007 starb der Vater des Kl und der Kl beantragte eine Waisenpension. Nachdem die Bekl den zunächst ab 1.12.2007 anerkannten Anspruch auf Waisenpension des Kl mit Ablauf des 31.8.2010 wieder entzogen hat, weil die Arbeitskraft des Kl ab 1.9.2010 nicht überwiegend für die Schulausbildung beansprucht worden sei, hat sie die Waisenpension mit Bescheid vom 4.4.2011 ab 1.3.2011 aufgrund eines neuerlichen Antrags des Kl wieder anerkannt. In der Folge bezog dieser bis 31.10.2013 (bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres) eine Waisenpension.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 10.10.2022 lehnte die Bekl den Antrag des Kl vom 26.7.2022 auf Gewährung einer Waisenpension ab, weil Erwerbsunfähigkeit nicht gegeben sei. Das Erstgericht gab der Klage des Kl gegen den ablehnenden Bescheid statt und bejahte die Kindeseigenschaft des Kl nach § 252 Abs 2 Z 3 ASVG, weil er seit dem erstmaligen stationären Aufenthalt im September 2010 nicht mehr in der Lage sei, am allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu sein.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl Folge und wies das Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht begründete seine Entscheidung damit, dass die Schulausbildung die Arbeitskraft während der Ferien nicht überwiegend in Anspruch nehme und die Kindeseigenschaft nur bestehen bleibe, wenn die Ausbildung unmittelbar nach dem Ende der Ferien aufgenommen bzw fortgesetzt werde. Der Grund für 184 das Unterbleiben der Aufnahme bzw Fortsetzung der Ausbildung spiele keine Rolle.

Da der Kl im Wintersemester 2010/2011 beurlaubt gewesen sei, also sein Studium nicht fortgesetzt habe, habe er sich daher in dem Zeitpunkt, in dem möglicherweise Erwerbsunfähigkeit eingetreten sei, nicht in einer seine Arbeitskraft überwiegend beanspruchenden Schul- oder Berufsausbildung befunden.

Der Kl erhob gegen die Berufungsentscheidung eine außerordentliche Revision. Die Revision ist zulässig und berechtigt.

Originalzitate aus der Entscheidung

„[…]

2.1. Mit der Bestimmung des § 252 Abs 2 Z 3 ASVG (idF BGBl I 2012/17) beabsichtigte der Gesetzgeber, Versorgungsansprüche eines Kindes zu erhalten, nicht aber Versorgungsansprüche für Personen neu zu schaffen, die erst später ihre Erwerbsfähigkeit verloren haben (RS0113891). Ein Anspruch auf Waisenpension setzt also voraus, dass im Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit die Kindeseigenschaft (zB im Sinn des § 252 Abs 2 Z 1 ASVG) noch gegeben war (RS0113891 [T4]). Es ist daher zu prüfen, ob sich der Kläger im September 2010, als er erwerbsunfähig wurde, in einer Schul- und Berufsausbildung im Sinn des § 252 Abs 2 Z 1 ASVG befand.

2.2. Das Berufungsgericht ging – von den Parteien unbeanstandet – davon aus, dass das Studium die Arbeitskraft des Klägers bis zum Sommersemester 2010 überwiegend beanspruchte. Dies ist der Entscheidung somit zugrunde zu legen.

2.3. Der Kläger macht in der Revision aber zutreffend geltend, dass er sich – entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts und der Bekl (in der Berufung) – auch im September 2010 noch in einer Ausbildung im Sinn des § 252 Abs 2 Z 1 ASVG befand.

2.3.1. Nach den Feststellungen war der Kläger im Wintersemester 2010/2011 beurlaubt (und studierte in diesem Semester nicht). Der vom Erstgericht bei dieser Feststellung aufgenommene Hinweis „(September 2010 bis Februar 2011)“ ist der dieser Feststellung zugrunde liegenden Studienzeitbestätigung vom 22. Juli 2022 […] nicht zu entnehmen und überdies – wie das Berufungsgericht zutreffend und von den Parteien unbeanstandet bemerkte – unrichtig. Gemäß § 52 Universitätsgesetz 2002 (in der damals geltenden Fassung BGBl I 2002/120) besteht das Studienjahr aus dem Wintersemester, dem Sommersemester und der lehrveranstaltungsfreien Zeit; es beginnt am 1. Oktober und endet am 30. September des folgenden Jahres, wobei der Senat nähere Bestimmungen über Beginn und Ende der Semester und der lehrveranstaltungsfreien Zeit zu erlassen hat. Der September 2010 befand sich danach in der lehrveranstaltungsfreien Zeit des Studienjahres 2009/2010 […] und damit insbesondere vor dem Wintersemester 2010/2011, das am 1. Oktober 2010 begann […]. Die Beurlaubung des Klägers gemäß § 67 Universitätsgesetz 2002 für das Wintersemester 2010/2011 betraf den September 2010 somit nicht.

2.3.2. Es ist daher auf Tatsachenebene davon auszugehen, dass der Kläger auch im September 2010 (noch) studierte und sich demgemäß in einer Ausbildung im Sinn des § 252 Abs 2 Z 1 ASVG befand.

2.3.3. Dass die behauptete Erwerbsunfähigkeit im September 2010 während der nach studienrechtlichen Vorschriften lehrveranstaltungsfreien Zeit eingetreten ist, ändert daran nichts. Dem Berufungsgericht ist zwar darin zuzustimmen, dass der Oberste Gerichtshof die zwischen der Ablegung der Reifeprüfung und dem Beginn des Zivildienstes bzw zwischen dem Ende des Zivildienstes und dem Beginn des Studiums gelegenen Zeiten als Ferienmonate beurteilt, während derer die Kindeseigenschaft nur dann weiter besteht, wenn im nächsten Wintersemester ein die Arbeitskraft überwiegend beanspruchendes Studium aufgenommen wird (RS0089658) [T14]). Dies ist dadurch begründet, dass es sich dann praktisch um eine durchgehende Schulausbildung handelt, die nur während der Ferien kurzfristig ausgesetzt wird (RS0089658) [T15]). Diese „Ferien“ sind aber durch eine Lücke zwischen zwei formal unterschiedlichen Ausbildungen im Sinn des § 252 Abs 2 Z 1 ASVG (Studium an einer höheren Schule und Studium an einer Hochschule) bedingt, in der die eine beendet und die andere noch nicht aufgenommen wurde (bzw werden konnte), sodass erst die tatsächliche Aufnahme eines Studiums die Fortsetzung der (ausgesetzten) Ausbildung bewirkt.

Eine solche Lücke besteht im vorliegenden Fall, in dem der Kläger weiterhin zum Studium zugelassen war und nach den Feststellungen auch tatsächlich (noch) studierte, jedoch nicht. Der bloße Umstand, dass ein bestimmter Zeitraum nach studienrechtlichen Vorschriften als „lehrveranstaltungsfrei“ bezeichnet wird, schließt die Annahme einer Ausbildung im Sinn des § 252 Abs 2 Z 1 ASVG in diesem Zeitraum – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – nicht aus, zumal auch in der lehrveranstaltungsfreien Zeit dem (Selbst-)Studium nachgegangen (vgl RS0085202) und gegebenenfalls […] Lehrveranstaltungen besucht werden können. Der bloße Umstand, dass das bisher betriebene Studium zu einem späteren Zeitpunkt (hier: im darauf folgenden Semester) nicht fortgesetzt wird, steht einer Qualifikation einer lehrveranstaltungsfreien Zeit als Ausbildung im Sinn des § 252 Abs 2 Z 1 ASVG nicht entgegen. […]“

Erläuterung

Anspruch auf Waisenpension haben nach dem Tode des (der) Versicherten gem § 260 ASVG die Kinder iSd § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 und Abs 2 ASVG. Als Kinder gelten nach § 252 Abs 1 Z 1 ASVG bis zum vollendeten 18. Lebensjahr ua die Kinder der versicherten Person. Die Kindeseigenschaft besteht auch nach der Vollendung des 18. Lebensjahres, wenn und solange sich das Kind in einer Schul- oder Berufsausbildung befindet, die seine Arbeitskraft überwiegend 185 beansprucht, längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres, wobei sich die Kindeseigenschaft von Kindern, die eine im § 3 des Studienförderungsgesetzes 1992 genannte Einrichtung besuchen, nur dann verlängert, wenn für sie entweder Familienbeihilfe nach dem Familienlastenausgleichsgesetz 1967 bezogen wird oder zwar keine Familienbeihilfe bezogen wird, sie jedoch ein ordentliches Studium ernsthaft und zielstrebig iSd § 2 Abs 1 lit b Familienlastenausgleichsgesetz 1967 idF des Bundesgesetzes BGBl 1992/311 betreiben (§ 252 Abs 2 Z 1 ASVG). Gem § 252 Abs 2 Z 3 ASVG besteht die Kindeseigenschaft, abgesehen von dem Fall einer Schul- oder Berufsausbildung, darüber hinaus auch, wenn und solange das Kind seit der Vollendung des 18. Lebensjahres oder seit dem Ablauf des in § 252 Abs 2 Z 1 (oder Z 2) ASVG genannten Zeitraums infolge Krankheit oder Gebrechens erwerbsunfähig ist.

Im gegenständlichen Fall vollendete der Kl das 27. Lebensjahr bereits im Jahr 2013, sodass die Kindeseigenschaft danach – und somit auch ab der Antragstellung am 26.7.2022 – nicht auf § 252 Abs 2 Z 1 ASVG gegründet werden kann. Strittig war im vorliegenden Fall zwischen den Parteien jedoch, ob die Kindeseigenschaft nach § 252 Abs 2 Z 3 ASVG besteht, weil der Kl seit September 2010 erwerbsunfähig ist.

Der OGH ist der Ansicht, dass sich der Kl im vorliegenden Fall im Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit in einer Ausbildung iSd § 252 Abs 2 Z 1 ASVG befand und seit diesem Zeitpunkt durchgehend iSd § 252 Abs 2 Z 3 ASVG erwerbsunfähig war. Daher bestand seine Kindeseigenschaft nach Ansicht des OGH auch im Zeitpunkt der Antragstellung (und darüber hinaus). Erwerbsunfähigkeit iSd § 252 Abs 2 Z 3 ASVG liegt nach der stRsp des OGH vor, wenn jemand wegen des nicht nur vorübergehenden Zustands der körperlichen und geistigen Kräfte und nicht nur wegen der ungünstigen Lage des Arbeitsmarkts oder wegen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit nicht imstande ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bzw als Selbständiger einen nennenswerten Erwerb zu erzielen (vgl RIS-Justiz RS0085556, RS0085536).

Diese Frage ist ausschließlich nach medizinischen Gesichtspunkten und ohne Bedachtnahme darauf zu beurteilen, ob und in welchem Umfang das Kind nicht dennoch – etwa auf Kosten seiner Gesundheit – weiterhin ein Einkommen aus unselbständiger oder selbständiger Tätigkeit bezieht (RS0085570).

Im gegenständlichen Fall ergibt sich ua aus der – auf das medizinische Sachverständigengutachten gestützten – Feststellung des Erstgerichts, wonach beim Kl (seit September 2010 bis heute) keine Arbeitsfähigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt besteht, eine Erwerbsunfähigkeit iSd stRsp des OGH.