87Infektion mit Covid-19 kann kein Arbeitsunfall sein
Infektion mit Covid-19 kann kein Arbeitsunfall sein
Der Unfallversicherungsschutz sollte durch Aufnahme der Infektionskrankheiten in den Katalog der Anlage 1 des ASVG eingeschränkt und nicht eine weitere Anspruchsgrundlage mit erleichterter Beweisführung geschaffen werden. Auch wenn Infektionen die Voraussetzungen des Unfallbegriffs erfüllen können, sind sie daher nicht vom Schutzbereich der UV erfasst. Nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 177 ASVG iVm der Anlage 1 besteht Unfallversicherungsschutz. Davon ausgenommen sind lediglich Fälle, in denen die Ansteckung auf ein unfallartiges Ereignis (Insektenstich, Biss, Injektion mit einer infizierten Nadel etc) zurückgeht.
Die Kl ist Mitarbeiterin eines Landes und war im Frühjahr 2020 im Sanitätsstab tätig, der sich mit der COVID-19-Pandemie beschäftigte. Ihre Tätigkeit verrichtete sie im März und April 2020 in einem Großraumbüro, in welchem regelmäßig zehn und mehr Mitarbeiter nebeneinander ohne Plexiglasscheiben oder FFP2-Masken beschäftigt waren. Die Kl war von 2.4. bis 4.4. sowie vom 6.4. bis 8.4.2020 an ihrem Arbeitsplatz tätig, aufgrund des großen Arbeitsaufwandes übernachtete sie teilweise am Dienstort. Die Fahrt dorthin erfolgte mittels eines vom DG gestellten Chauffeurs. Am 1.4.2020 erhielt sie eine viereinhalbstündige Infusion in einer Ordination, in der sie sich allein in einem Raum befand und keine Maske trug. Aufgrund von Symptomen wurde sie am 11.4.2020 positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Aufgrund dieses positiven Tests wurden weitere Mitarbeiter getestet, von denen zwei positiv getestet wurden. Die Kl lebt mit ihrem zweieinhalbjährigen Sohn und ihrem Ehemann zusammen. Der Ehemann befand sich im Frühjahr 2020 im Homeoffice, der Sohn besuchte den Kindergarten bereits seit dem 15.3. nicht mehr. Die Kl besuchte im April 2020 weder Freunde noch sonstige Familienmitglieder. Sie war im April 2020 ein einziges Mal einkaufen, dies mit OP-Maske.
Mit Bescheid vom 23.5.2022 sprach die bekl Versicherungsanstalt öffentlicher Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau aus, dass die Ansteckung nicht als Dienstunfall anerkannt werde. Die Vorinstanzen wiesen das dagegen erhobene Klagebegehren mit der Begründung ab, dass die Berufskrankheit Nr 38 an bestimmte Voraussetzungen (zB die Tätigkeit in bestimmten Unternehmen) gebunden ist, weshalb eine Beurteilung als Arbeitsunfall nicht in Betracht komme.
Die ordentliche Revision wurde vom OGH als zulässig, aber nicht berechtigt erachtet.
1. Nach § 90 Abs 1 B-KUVG sind Dienstunfälle Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit dem die Versicherung begründenden Dienstverhältnis oder mit der die Versicherung begründenden Funktion ereignen. […]
2. Der Unfallbegriff ist weder im B-KUVG noch im ASVG definiert. Rsp und Lehre umschreiben den Unfall dahin, dass es sich dabei um ein zeitlich begrenztes Ereignis – etwa eine Einwirkung von außen, ein abweichendes Verhalten, eine außergewöhnliche Belastung – handelt, das zu einer Körperschädigung (oder zum Tod) geführt hat (RS0084348; 10 ObS 80/20t [Rz 24] […]). Von einem „Unfall“ kann daher im Allgemeinen nur gesprochen werden, wenn die Gesundheitsbeeinträchtigung durch ein plötzliches Ereignis bewirkt wurde, wobei „plötzlich“ nicht Einmaligkeit bedeuten muss. Auch kurz aufeinander folgende Einwirkungen, die nur in ihrer Gesamtheit einen Körperschaden bewirken, sind noch als „plötzlich“ anzusehen, wenn sie sich innerhalb einer Arbeitsschicht ereignet haben (RS0084348 [T4]; 10 ObS 48/21p [Rz 25]; […]). Nicht als Unfall 188 gelten demnach Folgen von Dauereinwirkungen, die nur geschützt werden, wenn sie als Berufskrankheiten anerkannt sind (10 ObS 45/12h; vgl RS0110323). Der entscheidende Unterschied zwischen einem Unfall und einer Berufskrankheit ist daher der Zeitraum, in dem sie sich ereignen: Während der Unfall ein im dargestellten Sinn plötzliches Ereignis ist, entwickelt sich die Berufskrankheit typischerweise während eines länger andauernden Zeitraums (RS0110320; 10 ObS 48/21p [Rz 23] […]).
2.2. Für die Frage, ob ein Unfall vorliegt, kommt es nicht darauf an, ob die gesundheitsschädigenden Folgen sogleich oder erst später eintreten (10 ObS 224/98h […]). In der Rsp ist auch anerkannt, dass das schadenstiftende Ereignis nicht unbedingt ein mechanischer Vorgang sein muss, sondern – wie bei Krankheiten – auch ein chemo-physikalischer Vorgang sein kann. Demnach kann auch ein während der Arbeit zugezogener Insektenstich oder ein Biss durch einen tollwütigen Hund ein Arbeitsunfall sein, wenn durch die Einwirkung eine Gesundheitsschädigung hervorgerufen wird (10 ObS 71/04w […]; 10 ObS 93/13v […]).
3. Wendet man diese Grundsätze auf Infektionskrankheiten (wie COVID-19) an, erscheint es nicht ausgeschlossen, sie nicht nur als Berufskrankheit (Nr 38 der Anlage 1), sondern auch als Arbeitsunfall zu qualifizieren, weil die Ansteckung in der Regel durch ein „plötzliches Eindringen“ der Erreger in den Körper erfolgt.
3.1. In der Literatur werden dazu unterschiedliche Ansichten vertreten. […]
3.2. In Deutschland entspricht es der langjährigen Rsp und Lehre, dass auch Infektionskrankheiten im Sinn der dortigen BK 3101 (iVm § 9 SGB VII) eine Körperschädigung darstellen können, die die Merkmale eines Arbeitsunfalls erfüllt (BSG 2 RU 106/59; 2 RU 191/59; jüngst BSG B 2 U 34/17 R [Bakterieninfektion] […]).
3.3 Der Oberste Gerichtshof hat sich mit der Frage, ob die „bloße“ Ansteckung mit Infektionskrankheiten (für sich) ein Arbeits- oder Dienstunfall sein kann, noch nicht befasst. Zu 10 ObS 90/01k wurde zwar die Erkrankung an Hepatitis C im Zuge einer freiwilligen Blutplasmaspende als Arbeitsunfall angesehen. Nähere Umstände der Infektion sind der Entscheidung aber nicht zu entnehmen; zudem wurde in der dortigen Revision ohnehin nur das vermeintlich fehlende rechtliche Interesse an einer Feststellung gemäß § 82 Abs 5 ASGG thematisiert. In der schon erwähnten Entscheidung 10 ObS 71/04w war die Qualifikation als Arbeitsunfall nicht strittig (Einführen der verunreinigten Kanüle zur Plasmaspende).
4. Im Anlassfall ist dagegen eine behauptete „schlichte“ Ansteckung durch infizierte Kollegen zu beurteilen. Bei einer solchen scheidet nach Ansicht des Senats das Vorliegen eines Arbeitsunfalls de lege lata aus.
4.1. Charakteristikum der vom Gesetzgeber in die Anlage 1 zum ASVG aufgenommenen Berufskrankheiten ist überwiegend, dass sie erst durch längerfristige schädigende Einwirkungen (zB Schadstoffe, Druck, Lärm, Vibrationen) zur Erkrankung führen. Im Gegensatz dazu erfolgt bei Infektionskrankheiten der Infektionsvorgang als schadenstiftende Einwirkung grundsätzlich abrupt und erfüllt damit im Grunde eher die Voraussetzungen eines Unfalls. Wenn Infektionskrankheiten trotzdem den Berufskrankheiten zugeordnet werden, kann das nur dahin verstanden werden, dass der Gesetzgeber sie bewusst nur als solche behandeln, respektive sie nur unter den Voraussetzungen der Anlage 1 unter Versicherungsschutz stellen will. Der OGH hat zur Berufskrankheit Nr 38 auch mehrfach betont, dass eine Gesundheitsstörung verschiedene Ursachen haben kann und vor allem bei Infektionskrankheiten unterschiedlichste Ansteckungsquellen und Übertragungswege in Betracht kommen, die sich im Nachhinein weder sicher eruieren noch auf eine berufliche Tätigkeit zurückführen lassen (vgl 10 ObS 74/16d; 10 ObS 159/88 ua). Sinn und Zweck der Nr 38 der Anlage 1 besteht daher darin, nur jenen Personen (Unfallversicherungs-)Schutz bei einer Erkrankung an einer Infektionskrankheit zu gewähren, die aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit in genau definierten Unternehmen einer besonderen Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind (vgl 10 ObS 149/22t [Rz 24]; 10 ObS 39/23t [Rz 17] […]). Dass der Unfallversicherung mit der Nr 38 der Anlage 1 nur eine beschränkte Leistungspflicht auferlegt werden sollte, zeigt auch der Umstand, dass kein lückenloses System des Versicherungsschutzes geschaffen wurde (10 ObS 1/23d […]), obwohl der Sache nach eigentlich jede auf betriebliche Einwirkungen zurückgehende Krankheit als Berufskrankheit anerkannt werden müsste (Tomandl, System 2.3.2.2. [273]). Wie schon das Berufungsgericht zu Recht betont hat, lag die offenbare Absicht des Gesetzgebers somit darin, Infektionskrankheiten ausschließlich als Berufskrankheit unter den Schutz der Unfallversicherung zu stellen. Auch wenn Infektionen die Voraussetzungen des Unfallbegriffs erfüllen können, sind sie daher (e contrario) nicht vom Schutzbereich der Unfallversicherung erfasst.
4.2. Dass die Erkrankung anderer Personen als der in Nr 38 der Anlage 1 genannten Beschäftigten von der Leistungspflicht der Unfallversicherung ausgeschlossen sein soll, zeigt auch § 176 Abs 2 ASVG: Mit Ausnahme der in § 176 Abs 1 ASVG genannten „Dauertätigkeiten“ (etwa nach Z 7a oder Z 8) kommen dort mangels länger dauernder Expositionen praktisch nur punktuelle Einwirkungen, wie vor allem die Infektion mit einem Krankheitserreger, in Betracht (vgl Müller, SV-Komm § 176 Rz 140 der auf Hepatitis-Fälle verweist […]). Da der Gesetzgeber implizit selbst von der Dauer einer Arbeitsschicht als zeitliche Grenze für die Annahme eines Arbeitsunfalls ausgeht (vgl ErläutRV 181 BlgNR 14. GP 71), wäre eine Gleichstellung der (zwangsläufig kurzen) Einwirkungen mit Berufskrankheiten nicht notwendig, wenn sie ohnehin schon als Unfallereignis zu qualifizieren wären. In diesem Fall wäre der Versicherungsschutz 189 nämlich bereits durch die in § 176 Abs 1 ASVG angeordnete Gleichstellung mit Arbeitsunfällen gegeben. Der Annahme, die Nr 38 der Anlage 1 solle bloß zu Beweiserleichterungen führen, indem bestimmte Bereiche (Unternehmen) definiert werden, in denen eine Infektion (hoch-)wahrscheinlich ist, steht entgegen, dass durch § 176 Abs 2 ASVG der Versicherungsschutz (für Tätigkeiten nach § 176 Abs 1 ASVG) erst geschaffen (ErläutRV 404 BlgNR 13. GP 96) und nicht bloß für einen schon bestehenden Schutz eine einfachere Beweisführung ermöglicht werden sollte.
4.3. Auch die Nr 46 der Anlage 1 („Durch Zeckenbiss übertragbare Krankheiten“) spricht gegen die Qualifikation von Infektionskrankheiten als Arbeitsunfall. Die Aufnahme der Nr 46 erfolgte durch die 50. ASVG-Novelle (BGBl 1996/411), zu der die Materialien ausführen:
„Sowohl die Frühsommermeningoenzephalitis (FSME) als auch die Borreliose (lyme-disease) werden durch Zeckenbisse übertragen. [...] Diese Erkrankungen könnten zwar grundsätzlich auch als Folge eines Arbeitsunfalls (Unfall = Zeckenbiss) gewertet werden. Da es sich dabei letztlich um Infektionskrankheiten handelt, ist die Aufnahme in die Liste der Berufskrankheiten [...] wünschenswert [...]“ (ErläutRV 284 BlgNR 18. GP 38 f).
Somit sieht offenbar selbst der Gesetzgeber das mögliche Unfallereignis nicht im „plötzlichen Eindringen“ des Virus (FSME) oder der Bakterien (Borreliose) in den Körper, sondern im (unfallartigen) Zeckenbiss.
5. Insgesamt ergibt sich aus diesen Erwägungen letztlich klar, dass durch Aufnahme der Infektionskrankheiten in den Katalog der Anlage 1 der Unfallversicherungsschutz eingeschränkt und nicht eine weitere Anspruchsgrundlage mit erleichterter Beweisführung geschaffen werden sollte. Der Senat kommt daher zum Ergebnis, dass ein Versicherungsschutz dafür nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 177 ASVG iVm der Anlage 1 besteht. Davon ausgenommen sind lediglich Fälle, in denen die Ansteckung auf ein unfallartiges Ereignis (Insektenstich, Biss, Injektion mit einer infizierten Nadel etc) zurückgeht. Ausschließlich insoweit überschneiden sich Dienst- bzw Arbeitsunfall und Berufskrankheit.
Der OGH hat in gegenständlicher E – wie in einer zeitgleich ergangenen E zur Covid-Infektion eines stellvertretenden Leiters der EDV-Abteilung einer Landespolizeidirektion (OGH 16.1.2024, 10 ObS 68/23g) – erstmals klargestellt, dass eine Ansteckung mit Covid-19 kein Dienst- bzw Arbeitsunfall sein kann. Diese Frage wurde von Lehre und Praxis bereits intensiv diskutiert, die Entscheidungen daher mit entsprechender Spannung erwartet.
Der OGH führt zunächst noch aus, dass bei Anwendung der bisher in der Rsp zu Arbeitsunfällen herausgearbeiteten Grundsätze Infektionskrankheiten auch Arbeitsunfälle sein können, weil die Ansteckung in der Regel durch ein „plötzliches“ Eindringen“ der Erreger in den Körper erfolgt. Auch verweist er – wie so oft bei Entscheidungen zur UV – auf Deutschland, wo es der langjährigen Rsp und Lehre entspricht, dass auch Infektionskrankheiten die Merkmale eines Arbeitsunfalles erfüllen. Er führt weiters aus, dass aufgrund der abrupten schadensstiftenden Einwirkung bei Infektionskrankheiten im Grunde eher die Voraussetzungen eines Unfalles erfüllt sind. Aus der Tatsache, dass die Infektionskrankheiten aber in die Berufskrankheiten-(BK-)Liste aufgenommen wurden, schließt der OGH allerdings, dass der Gesetzgeber eine Qualifikation als Dienst- bzw Arbeitsunfall bewusst ausschließen und keine zusätzliche Möglichkeit der Anerkennung mit erleichterter Beweisführung schaffen wollte. Ausgenommen hiervon seien lediglich Fälle, bei denen die Ansteckung auf ein unfallartiges Ereignis zurückzuführen ist (Insektenstich, Biss, Injektion mit einer infizierten Nadel etc).
Für jene Versicherten, die sich bei einer Tätigkeit außerhalb eines in der BK-Liste aufgezählten Unternehmens (Gesundheitseinrichtungen, wie Kranken- und Pflegeanstalten, öffentliche Apotheken, Bildungseinrichtungen, Laboratorien und Justizanstalten sowie in Unternehmen mit vergleichbarer Gefährdung) mit COVID-19 angesteckt haben, bedeutet die Entscheidung, dass sowohl eine Anerkennung als Berufskrankheit als auch als Arbeitsunfall ausscheiden.