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Pflegegeld: Berücksichtigung des tatsächlichen Betreuungsaufwands bei erheblicher Überschreitung des zeitlichen Mindestwerts nach der Kinder-EinstVO

ElisabethHansemann
§ 3 Abs 6 Z 4 Kinder-EinstVO

Der 2018 geborene Kl lebt bei seinen Eltern und leidet an einer Autismus-Spektrum-Störung. Die tägliche Essenssituation des Kl gestaltet sich sehr schwierig, da dieser sehr wählerisch ist und stets abgelenkt werden muss, wodurch die Einnahme einer Mahlzeit sehr lange dauert. Der tägliche Zeitaufwand für die Einnahme von Mahlzeiten beträgt daher 90 Minuten täglich, das sind 45 Stunden monatlich.

Mit Bescheid vom 4.5.2022 erkannte die bekl Pensionsversicherungsanstalt den Anspruch des Kl auf Pflegegeld der Stufe 1 an. In seiner dagegen gerichteten Klage begehrte der Kl ein höheres Pflegegeld.

Der Erstgericht verpflichtete die Bekl zur Zahlung eines Pflegegeldes der Stufe 3 ab 1.5.2022. Es ging hinsichtlich der Einnahme von Mahlzeiten aufgrund einer erschwerenden Funktionseinschränkung iSd § 3 Abs 6 Z 4 lit b Kinder-EinstVO von einem zu berücksichtigenden Pflegebedarf von 45 Stunden monatlich aus und errechnete einen Pflegebedarf von insgesamt 125 Stunden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl Folge und änderte das Ersturteil dahingehend ab, dass es dem Kl ein Pflegegeld der Stufe 2 zusprach. Die erforderliche Anwesenheit einer Betreuungsperson bei der Einnahme einer Mahlzeit und einen Pflegebedarf in der Höhe von monatlich 30 Stunden gestehe die Berufungswerberin ohnehin zu. Eine konkret bezogen auf die Einnahme von Mahlzeiten erschwerende Funktionseinschränkung ergebe sich aus dem festgestellten Sachverhalt nicht, weshalb sich ein durchschnittlicher monatlicher Pflegebedarf des Kl von 110 Stunden errechne, der einem Pflegegeld der Stufe 2 entspreche. Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu.

Die dagegen gerichtete außerordentliche Revision des Kl ist zulässig und berechtigt, weil dem Berufungsgericht eine aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlief.

Der über den Mindestwert von 30 Stunden monatlich hinausgehende Zeitaufwand für die Einnahme von Mahlzeiten ist nicht bloß durch den Erschwerniszuschlag nach § 5 Kinder-EinstVO iVm § 4 Abs 3 und 4 BPGG pauschal abzugelten, sondern gesondert zu prüfen und zu berücksichtigen.

Bei der Feststellung des behinderungsbedingten zeitlichen Betreuungsaufwands ist für das Einnehmen von Mahlzeiten ab dem vollendeten 3. Lebensjahr grundsätzlich ein zeitlicher Mindestwert von einer Stunde pro Tag festgelegt (§ 3 Abs 6 Z 4 lit c Kinder-EinstVO). Liegt eine erschwerende Funktionseinschränkung vor, erhöht sich der festgelegte Mindestwert auf 90 Minuten pro Tag (§ 3 Abs 6 Z 4 lit b Kinder-EinstVO).

Nach dem vorletzten Satz des § 3 Abs 6 Kinder-EinstVO sind Abweichungen von diesen Zeitwerten dann zu berücksichtigen, wenn der tatsächliche Betreuungsaufwand (abzüglich des natürlichen, altersbedingten Pflegebedarfs nach § 1 Kinder-EinstVO) diese Mindestwerte erheblich überschreitet. Nach den Erläuterungen zur Kinder-EinstVO liegt eine erhebliche Überschreitung des Mindestwerts – entsprechend 192 der Rsp zur EinstVO – dann vor, wenn eine Überschreitung um annähernd die Hälfte gegeben ist.

Nach den Feststellungen beträgt der tägliche Zeitaufwand für die Einnahme der Mahlzeiten 90 Minuten. Dieser Zeitaufwand resultiert aus der Verhaltensstörung des Kl, weil er beim Füttern abgelenkt werden muss. Ob die Verhaltensstörung des Kl eine erschwerende Funktionseinschränkung darstellt, die die Heranziehung des (höheren) Mindestwerts nach § 3 Abs 6 Z 4 lit b Kinder-EinstVO rechtfertigen würde, kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben. Selbst wenn man nämlich mit dem Berufungsgericht und der Bekl annimmt, dass die Verhaltensstörung des Kl keine solche erschwerende Funktionseinschränkung darstellt, steht fest, dass die Anwesenheit einer Pflegeperson bei der Einnahme von Mahlzeiten erforderlich ist. Für diesen Betreuungsaufwand ist nach § 3 Abs 6 Z 4 lit c Kinder-EinstVO zwar ein Mindestwert von (nur) 60 Minuten täglich festgelegt. Der tatsächliche Betreuungsaufwand für diese Verrichtung beträgt im gegenständlichen Fall allerdings 90 Minuten täglich und überschreitet den festgelegten Mindestwert somit um die Hälfte. Dies führt nach der dargestellten Rechtslage zur Berücksichtigung des den Mindestwert erheblich überschreitenden tatsächlichen Betreuungsaufwands von 90 Minuten täglich. Aufgrund des Alters des Kl ist kein natürlicher Pflegebedarf vom tatsächlichen Pflegebedarf in Abzug zu bringen.

Es trifft zwar zu, dass der Kl von einem Brot abbeißen kann und (teilweise) aus dem Fläschchen trinken kann. Der festgestellte tatsächliche Pflegeaufwand resultiert aber daraus, dass der Kl stets (also auch während bzw trotz dieser mitunter selbständig durchführbaren Verrichtungen) abgelenkt werden muss. Entgegen dem Verständnis des Berufungsgerichts enthält der festgestellte Zeitwert von 90 Minuten täglich auch keine Verrichtungen, die anderen Betreuungsmaßnahmen (mit anderen Richt- oder Mindestwerten) zuzuordnen wären.

Da es auf das Vorliegen einer erschwerenden Funktionseinschränkung im gegenständlichen Fall nicht ankommt, erübrigen sich die Ausführungen zur von der Bekl in der Revisionsbeantwortung thematisierten Frage, ob die Voraussetzungen iSd § 3 Abs 6 Z 4 lit b Kinder-EinstVO vorliegen und der dort festgelegte Mindestwert von 90 Minuten täglich neben dem Erschwerniszuschlag nach § 8 Kinder-EinstVO iVm § 4 Abs 3 und 4 BPGG herangezogen werden kann. Zu dem bereits im Berufungsverfahren nicht mehr strittigen Pflegebedarf von 80 Stunden monatlich sind daher die festgestellten 45 Stunden monatlich zu addieren. Daraus ergibt sich ein Pflegebedarf von insgesamt 125 Stunden monatlich und somit ein Anspruch des Kl auf Pflegegeld der Stufe 3.