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Zuständigkeit für Kinderbetreuungsgeld nur bei tatsächlicher Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Inland, wenn Wohnort im EU-Ausland

JohannaRachbauer
OGH 6.1.2024, 0 ObS 64/23v

Die Kl lebt in der Slowakei und war seit 2008 als Personenbetreuerin in Österreich selbständig tätig. Aus Anlass der Geburt ihres ersten Kindes bezog sie von 7.11.2014 bis 10.5.2016 pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto. Sie beantragte für die Dauer des Bezugs des Kinderbetreuungsgeldes die Ausnahme von der Pflichtversicherung in der KV und PV nach § 4 Abs 1 Z 7 GSVG. Mit Schreiben vom 31.1.2016 widerrief sie diese Ausnahme. Ob die Kl dabei tatsächlich beabsichtigte, ihre selbständige Erwerbstätigkeit wieder aufzunehmen, konnte nicht festgestellt werden. Anlässlich der Geburt ihres zweiten Kindes bezog sie von 21.3.2017 bis 22.9.2018 pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto samt Beihilfe.

Mit Bescheid vom 5.5.2020 widerrief die Bekl die Zuerkennung des Kinderbetreuungsgeldes für den Zeitraum von 1.4.2017 bis 22.9.2018 sowie der Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 1.4.2017 bis 20.3.2018 und verpflichtete die Kl zum Rückersatz. Dagegen erhob die Kl Klage.

Das Erstgericht wies die Klage der Sache nach ab und sprach aus, dass die Kl von 1.2. bis 7.8.2016 trotz aufrechter Gewerbeberechtigung eine Erwerbstätigkeit nicht tatsächlich ausgeübt habe, weshalb die Zuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 nicht gegeben sei. Das Berufungsgericht gab der Klage statt und führte aus, dass der Widerruf der Ausnahme nach § 4 Abs 1 Z 7 GSVG kein Indiz für eine bloße Scheinkarenz sei.

Der OGH ließ die dagegen erhobene außerordentliche Revision zu, hob die Entscheidungen der Vorinstanzen auf und begründete wie folgt: Für die Erbringung und damit auch für den Export von Familienleistungen ist jener Mitgliedstaat zuständig, dessen Rechtsvorschriften gem Art 11 ff VO (EG) 883/2004 anwendbar sind. Für Personen, die in einem Mitgliedstaat eine „Beschäftigung“ oder eine „selbstständige Erwerbstätigkeit“ ausüben, sind das die Rechtsvorschriften dieses Staats, und zwar unabhängig davon, wo die Person ihren Wohnsitz hat. Was unter einer „Beschäftigung“ sowie einer „selbständigen Erwerbstätigkeit“ iSd VO (EG) 883/2004 zu verstehen ist, wird in den lit a und b ihres Art 1 definiert, die dazu jeweils auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen. Maßgeblich für die kollisionsrechtliche Anknüpfung ist demnach – sowohl für den Bereich des pauschalen als auch des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes – die nationale Definition des Begriffs der „Beschäftigung“ sowie des Begriffs der „einer Beschäftigung gleichgestellten Situation“ in § 24 Abs 2 KBGG (hier idF BGBl I 2013/117). Darauf aufbauend ziehen die Parteien nicht in Zweifel, dass es einer lückenlosen Aneinanderreihung von Zeiten iSd § 24 Abs 2 KBGG bedarf, um die Leistungszuständigkeit Österreichs zu begründen („Gleichstellungskette“). Nach § 24 Abs 2 KBGG aF setzt die von der Kl in Anspruch genommene Gleichstellung die Unterbrechung ihrer zuvor mindestens sechs Monate dauernden sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit während eines Beschäftigungsverbots oder einer Karenz voraus.

Der OGH stellte folgende unstrittigen Zeiten der Erwerbstätigkeit bzw der mit diesen gleichgestellten Zeiten fest: die vor Beginn des ersten Wochengeldbezugs mindestens sechs Monate dauernde selbständige Erwerbstätigkeit in Österreich, die Zeit des Wochengeldbezugs und die Zeit des Bezugs von pauschalem Kinderbetreuungsgeld unter Inanspruchnahme der Ausnahme von der Pflichtversicherung beim ersten Kind sowie die Zeit des Wochengeldbezugs beim zweiten Kind.

Strittig ist die Qualifikation des Zeitraums von 1.2. bis zum 7.8.2016, in dem die Kl zwar teilweise (bis 10.5.2016) pauschales Kinderbetreuungsgeld bezogen, jedoch die Inanspruchnahme von der Ausnahme von der Pflichtversicherung nach § 4 Abs 1 Z 7 GSVG widerrufen hat. Dazu ist das Berufungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass die gleichgestellte Situation mit Löschung der Ausnahme von der Pflichtversicherung nach § 4 Abs 1 Z 7 GSVG beendet wurde. Die Ausführungen des Berufungsgerichts zu einer vermeintlichen Scheinkarenz beruhen daher auf einem Missverständnis. Denn eine Scheinkarenz liegt vor, wenn (schon) die vorübergehende Unterbrechung der Tätigkeit zum Zweck der Kindererziehung nur vorgetäuscht wird, obwohl in Wahrheit von einer Beendigung der Tätigkeit auszugehen ist. Das Erstgericht hat der Kl hingegen eine Scheinerwerbstätigkeit vorgeworfen, indem sie zwar die Ausnahme von der Pflichtversicherung nach § 4 Abs 1 Z 7 GSVG widerrief, aber nicht vorgehabt habe, ihre selbständige Erwerbstätigkeit tatsächlich auszuüben – und dies auch nicht getan habe. Entscheidend ist daher, ob die Kl eine Erwerbstätigkeit (tatsächlich) ausübte.

Bei der Beurteilung dieser Frage kommt es zunächst darauf an, ob eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde, die der Pflichtversicherung (auch) in der KV und PV unterliegt. Der Begriff „tatsächlich“ ist dabei nicht iS einer konkreten Ausübung einer Arbeitsleistung zu bestimmten Zeiten oder an bestimmten Orten zu verstehen. Ob die Kl ihre Erwerbstätigkeit in diesem Sinn ab 1.2.2016 tatsächlich ausgeübt hat, lässt sich auf Basis der derzeitigen Sachverhaltsgrundlage noch nicht definitiv beantworten. Entgegen der Ansicht der Kl reicht eine aufrechte Pflichtversicherung für sich allein nicht aus, weil es dafür nicht darauf ankommt, ob der Selbständige 199 sein Gewerbe auch ausübt. Demgemäß liegt keine Erwerbstätigkeit iSd § 24 Abs 2 KBGG vor, wenn trotz aufrechter Pflichtversicherung eine tatsächliche Ausübung der (selbständigen) Tätigkeit nicht einmal beabsichtigt ist. Dazu hat das Erstgericht festgehalten, dass nicht festgestellt werden könne, ob sie tatsächlich beabsichtigt habe, ihre selbständige Erwerbstätigkeit wieder aufzunehmen. Im Gegensatz zu seinen vorherigen Sachverhaltsannahmen hat das Erstgericht jedoch in der rechtlichen Beurteilung ausgeführt, es sei „belegt, dass die Kl das Gewerbe nur zum Schein aufrecht meldete“ – woraus konsequenterweise folgen müsste, dass sie eine Ausübung ihrer Tätigkeit auch nie beabsichtigte. Die zitierte Ausführung ist dem Tatsachenbereich zuzuordnen, sodass die Feststellungen des Erstgerichts insofern widersprüchlich sind. Da die Bekl für das Vorliegen eines Rückforderungstatbestands behauptungs- und beweispflichtig ist, ist die Widersprüchlichkeit auch entscheidungsrelevant. Auch wenn der Kl zuzustimmen ist, dass die tatsächliche Ausübung einer selbständigen Tätigkeit nicht (allein) von der aktuellen Auftragslage abhängen kann, sind aber jedenfalls Handlungen in einer entsprechenden Intensität erforderlich, die den Willen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit erkennbar zum Ausdruck bringen. Im Fall der Kl sind jedenfalls Handlungen erforderlich, die ein nachhaltiges Bemühen erkennen lassen, (neue) Kunden zu akquirieren. Diese Beurteilung lässt der aktuell festgestellte Sachverhalt nicht zu.

Im fortgesetzten Verfahren wird daher festzustellen sein, ob die Kl im strittigen Zeitraum Handlungen gesetzt hat, die (schon) als Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit anzusehen sind.