EuGH: 50 %-iger Zuschlag für Teilzeit-Mehrarbeit?
EuGH: 50 %-iger Zuschlag für Teilzeit-Mehrarbeit?
Die aktuelle EuGH-E zu Rs C-660/20* wirft die bislang nur rechtspolitisch diskutierte Frage neu auf, ob der Grundsatz der Nichtdiskriminierung von Teilzeitbeschäftigten bereits jetzt einen 50 %-igen Überstundenzuschlag für Mehrarbeit gebietet.
Mit dem massiven Anstieg der Teilzeitbeschäftigung – zwischen 1974 und 1994 verdoppelte sich die Zahl der Teilzeitbeschäftigten von 173.200 auf 336.200 Personen* – stellte sich bereits in den 1990er-Jahren verstärkt die Frage, wie von AN geleistete Mehrstunden zu entgelten sind. Der OGH ging davon aus, dass der Maßstab für die Überstundenarbeit eines Teilzeitbeschäftigten die Normalarbeitszeit der vergleichbaren vollbeschäftigten AN im Betrieb sei.* Teilzeitbeschäftigte erhielten daher mangels günstigerer Kollektivvertragsbestimmungen für geleistete Mehrarbeit nur dann Zuschläge, wenn sie durch diese Mehrarbeit die gesetzlich definierte Grenze der achtstündigen täglichen oder der vierzigstündigen wöchentlichen Normalarbeitszeit überschritten. Gerade auf AN-Seite wurde dies als unbefriedigend empfunden: Als Maßnahme „gegen BeschäftigerInnen, die nur Teilzeitarbeit anbieten, bei Bedarf aber Mehrarbeit verlangen“, forderte insb der ÖGB verbindliche Zuschläge für Mehrarbeit ein,* um damit die Situation vor allem teilzeitbeschäftigter Frauen zu verbessern. Mit der AZG-Novelle 2007 wurde der § 19d AZG um die Abs 3a bis 3f erweitert und damit tatsächlich unter gewissen Voraussetzungen ein Zuschlag für Mehrarbeitsstunden geschaffen.* Dies wurde nachvollziehbar damit begründet, dass die Zuschlagsfreiheit die sozialpolitisch unerwünschte Zerlegung von Vollzeitarbeitsverhältnissen in Teilzeitjobs begünstige.* Obwohl der Mehrarbeitszuschlag eigentlich „analog zum Überstundenzuschlag konstruiert“ wurde,* wich er in zwei zentralen Punkten davon ab: Zum einen ist er mit 25 % nur halb so hoch wie der 50 %-ige Überstundenzuschlag nach § 10 AZG, zum anderen entfällt ein Zuschlag, wenn innerhalb von drei Monaten die Mehrstunden als Zeitausgleich konsumiert werden (Abs 3b leg cit). Das spiegelt wider, dass man sich in den vorangegangenen Sozialpartnerverhandlungen „in der Mitte“ zwischen der bisherigen Zuschlagsfreiheit und der Überstundenzuschlagshöhe von 50 % geeinigt hatte.* Aus gewerkschaftlicher Sicht blieb die rechtspolitische Forderung nach einem 50 %-igen Zuschlag und dem Entfall der Zuschlagsfreiheit weiter bestehen.*
In rechtlicher Hinsicht stellte sich die Frage, ob die neuen Bestimmungen mit dem im nunmehrigen Art 157 AEUV enthaltenen Prinzip des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bzw mit dem in § 4 der Teilzeit-RahmenRL* normierten Grundsatz der Nichtdiskriminierung von Teilzeitbeschäftigten vereinbar sei. In der Rs Helmig hatte der EuGH verneint, dass die Zahlung von Überstundenzuschlägen erst ab Überschreiten der tarifvertraglichen Normalarbeitszeitgrenzen eine Geschlechterdiskriminierung darstelle: Solange Teilzeitbeschäftigte für die gleiche Stundenzahl das gleiche Entgelt erhielten, liege keine Entgeltdiskriminierung vor.* Auf diese Beurteilung verwies er auch in der Rs Voß.* Vor diesem Hintergrund beschränkte sich die Debatte über eine mögliche Unionsrechtswidrigkeit der neuen Bestimmungen zum Mehrarbeitszuschlag im Wesentlichen auf den Umgang mit zuschlagsfreien Mehrarbeitsstunden bei kollektivvertraglich verkürzter wöchentlicher Normalarbeitszeit:* Sind für Mehrarbeitsstunden bis zur gesetzlichen Normalarbeitszeit von 40 Wochenstunden auch für Vollzeitbeschäftigte keine oder unter-25 %-ige Zuschläge für Mehrarbeit vorgesehen, so gilt dies „im gleichen Ausmaß“ auch für Teilzeitbeschäftigte. Lutz/Mayr wiesen darauf hin, dass es vor dem Hintergrund der Rs Elsner-Lakeberg unionsrechtlich problematisch sei,* wenn diese zuschlagsfreien Mehrarbeitsstunden 209 nicht nach dem pro-rata-temporis-Grundsatz entsprechend dem Teilzeitfaktor aliquotiert würden: In dieser E hatte der EuGH eine Entgeltdiskriminierung der Kl darin erblickt, dass die schlechter entlohnten Unterrichtsstunden nicht proportional zu ihrer Teilzeitbeschäftigung vermindert worden waren.* Dagegen wurde ins Treffen geführt, dass auch bei Nichtaliquotierung Teilzeitbeschäftigte den gleichen Lohn erhielten wie Vollzeitbeschäftigte: 30 Wochenstunden einer Teilzeitbeschäftigten mit 25-Stundenvertrag würden ebenso entlohnt wie die ersten 30 Wochenstunden einer mit 37 Wochenstunden Vollzeitbeschäftigten – dies sei daher unionsrechtlich gedeckt.* Dieser Auffassung schloss sich letztlich auch der OGH in einem nach § 54 Abs 2 ASGG geführten Feststellungsverfahren an.* Keine Beachtung fand dabei allerdings der Hinweis des EuGH in der Rs Elsner-Lakeberg, dass für die Prüfung des Vorliegens einer Ungleichbehandlung jeder Entgeltbestandteil für sich betrachtet werden müsse und nicht nur eine Gesamtbewertung vorgenommen werden dürfe.*
Auslöser des nunmehrigen Vorlageverfahrens ist eine grundlegende Judikaturwende des deutschen BAG: Dieses hatte in Abkehr von seiner bisherigen Rsp befunden, dass die Frage der Zuschlagsentlohnung von Mehrarbeitsstunden für Teilzeitbeschäftigte nicht von einem Vergleich der Gesamtvergütung, sondern vom isolierten Vergleich des Entgeltbestandteils der Zuschläge abhänge. Die Anforderung, dass Teilzeitbeschäftigte erst die Vollzeitarbeitsgrenze überschreiten müssten, um für die nächste Stunde einen Überstundenzuschlag zu erhalten, sei mit einer benachteiligenden höheren Belastungsgrenze für Teilzeitbeschäftigte verbunden und verstoße gegen das Diskriminierungsverbot für Teilzeitbeschäftigung.* Das BAG sah diese Judikaturwende durch die EuGH-Rsp in der Rs Elsner-Lakeberg und den auch in der Rs Voß enthaltenen Hinweis auf „Vergütungsbestandteile“* als unionsrechtlich geklärt an. Dies wurde wohl zurecht in Frage gestellt* und ist mE Wagner beizupflichten, dass der EuGH nach den Rs Helmig, Elsner-Lakeberg und Voß noch „keine konsistente Argumentationslinie
“ gefunden hatte.* Unter Hinweis auf die „nicht uneingeschränkte Zustimmung“ zur geänderten Rsp-Linie entschloss sich das BAG daher bei nächster Gelegenheit zur Vorlage an den EuGH.*
Im zugrunde liegenden Sachverhalt sieht der anzuwendende Tarifvertrag für vollzeitbeschäftigte Piloten für Flugdienstzeiten, die über 106 Stunden (bei Langstreckenflügen: 93 Stunden) hinausgehen, eine Mehrvergütung vor. Teilzeitbeschäftigte erhalten für Mehrleistungen bis zu dieser Auslösegrenze zwar eine der Grundvergütung entsprechende Entlohnung, eine Mehrvergütung erhalten Teilzeitbeschäftigte aber erst, wenn die Auslösegrenze für Vollzeitbeschäftigte erreicht wird.* Das deutsche BAG legte dem EuGH unter Hinweis auf die von ihm wahrgenommenen Widersprüche zwischen der Rs Helmig einerseits und der Rs Elsner-Lakeberg andererseits zunächst die Frage vor, ob es ein Verstoß gegen die Teilzeit-RahmenRL sei, dass eine Zusatzvergütung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten an die Überschreitung der gleichen Zahl an Arbeitsstunden gebunden wird und damit auf einen Vergleich der Gesamtvergütung statt auf den Vergleich der Zusatzvergütung abgestellt werde. Zum anderen wollte es vom EuGH wissen, ob das Ziel des Ausgleichs besonderer Arbeitsbelastung eine solche einheitliche Stundengrenze für Mehrarbeitsvergütungen von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten rechtfertigen könne.*
Wie in der Rs Helmig erhält im vorgelegten Fall ein teilzeitbeschäftigter Pilot für die gleiche Anzahl an Flugstunden das gleiche Entgelt wie ein vollzeitbeschäftigter Pilot, und zwar sowohl für Grundstunden wie für Mehrstunden über der Auslöseschwelle. Umso bemerkenswerter ist daher, dass der EuGH unter Hinweis auf die Rs Elsner-Lakeberg feststellt, dass das verfahrensgegenständliche Entgeltsystem Teilzeitbeschäftigte benachteilige: Gemessen an ihrer Gesamtarbeitszeit entsprechen die identischen Auslösegrenzen bei Teilzeitbeschäftigten einer höheren Belastung mit nachteiligen Auswirkungen auf Leistung und Gegenleistung – es sei davon auszugehen, dass Teilzeitbeschäftigte die Anspruchsvoraussetzungen seltener erfüllen und daher benachteiligt werden.* Damit geht der EuGH sehr klar von der Rsp-Linie der Rs Helmig ab: Dass der teilzeitbeschäftigte Kl für die gleiche Zahl an Arbeitsstunden ebenso entlohnt wird wie ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Pilot reicht dem EuGH nicht mehr, um vom Fehlen einer Ungleichbehandlung auszugehen.
Fast ebenso klar wie der EuGH eine Ungleichbehandlung bejaht, stellt er auch hohe Anforderungen 210an eine mögliche Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung, die von den nationalen Gerichten zu prüfen ist: Der AG hatte im Verfahren argumentiert, die Auslösegrenze sei gerechtfertigt, weil durch die Mehrarbeitsvergütung die besondere Arbeits- und Gesundheitsbelastung ausgeglichen und die übermäßige Heranziehung einzelner Piloten vermieden werden solle. Das überzeugte den EuGH erkennbar wenig: Zum einen stellte er die Nachvollziehbarkeit der genannten Ziele und die objektive Überprüfbarkeit der angegebenen Grenzen in Frage. In Hinblick auf die monatlichen Auslösegrenzen bezweifelte er auch die Eignung zur Begrenzung der Arbeitsbelastung. Die zweite Sensation dieser E ist aber mE der kritische Hinweis des EuGH, dass einheitliche Auslösegrenzen die individuellen Auswirkungen der Arbeitsbelastung außer Betracht lassen: Er kritisiert, dass damit „die eigentlichen Gründe für das Institut der Teilzeitarbeit keine Berücksichtigung finden, wie z.B. etwaige außerberufliche Belastungen
“.* Der EuGH wertet damit den bisher in der Literatur gelegentlich vorgebrachten Rechtfertigungsansatz grundlegend um: Gerade die Hintanhaltung einer zu hohen Gesamtbelastung des AN aus gesundheitlichen und familiären Gründen* spricht offenbar dafür, die Mehrarbeit von Teilzeitkräften ebenso zu behandeln wie die Überstunden einer Vollzeitkraft. Die gesundheitliche Überbelastung resultiert nicht nur aus der Erwerbsarbeit selbst, sondern eben auch aus der Kombination von unbezahlter Pflegearbeit oder berufsbegleitenden Ausbildungen und bezahlter, aufgrund der außerberuflichen Belastung im Ausmaß reduzierter Erwerbsarbeit. Der EuGH geht mit seiner E implizit – anders als manche politischen Akteure – von sozialwissenschaftlichen Fakten aus, dass AN in der Regel nicht leichtfertig einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen: 2022 waren zB 40,4 % der teilzeitbeschäftigten Frauen in Österreich aufgrund der Betreuung von Kindern bzw pflegebedürftigen Erwachsenen nicht in Vollzeit tätig.* Nicht zu vernachlässigen ist mE iS dieser Rsp auch, dass AN ihre Arbeitszeit in bestimmten, besonders belastenden Branchen durch Teilzeit individuell verkürzen, um der hohen Arbeitsbelastung standzuhalten. Einheitliche Auslösegrenzen, die bei der Mehrarbeitsvergütung auf diese Faktoren keine Rücksicht nehmen, sind so kaum dazu geeignet, Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen, weil die ins Treffen geführte Vermeidung von überbordenden Arbeitsbelastungen eben bereits für Mehrarbeit bei Teilzeit zu berücksichtigen sein kann.
Mit der vorliegenden E hat sich der EuGH sehr klar von seiner bisherigen Judikatur iSd Rs Helmig abgewendet. Auch wenn Teilzeitbeschäftigte für die gleiche Zahl an Arbeitsstunden das gleiche Entgelt erhalten wie Vollzeitbeschäftigte ist von einer Ungleichbehandlung auszugehen, wenn die geleistete Mehrarbeit schlechter bezahlt wird als bei Vollzeitbeschäftigten. Dieser Gedanke ist grundsätzlich auf die österreichische Rechtslage zu übertragen. Für die Frage des Vorliegens einer Ungleichbehandlung durch einheitliche Auslösegrenzen kann es keinen Unterschied machen, ob diese Auslösegrenzen auf einen Monats-, Wochen- oder Tageszeitraum abstellen. Richtig ist allerdings, dass der EuGH – völlig zurecht – für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung offensichtlich danach differenziert, ob die Auslösegrenzen monatlich, wöchentlich oder täglich definiert sind.* Monatliche Grenzen sind als Mittel für die Vermeidung individueller Überbelastungen von vornherein kaum geeignet. Aus dem Hinweis, dass es „nicht ausgeschlossen“ sei, dass wöchentliche Grenzwerte geeigneter sein könnten, das angegebene Ziel zu erreichen, kann aber mE noch lange nicht geschlossen werden, dass die österreichische Rechtslage unproblematisch wäre.*Gruber-Risak ist zuzustimmen, dass es jedenfalls eine substantiellere Auseinandersetzung als bisher mit der Unionsrechtskonformität der österreichischen Rechtslage zur Zuschlagshöhe für Teilzeitbeschäftigte braucht und für die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ins Treffen geführte objektive Faktoren statistisch nachzuweisen sind.* Gerade vor dem Hintergrund, dass der 25 %-ige Teilzeitzuschlag einen politischen Kompromiss darstellt, der die eigentlich gesetzgeberisch angestrebte gleiche Behandlung mit der Ausgestaltung des Überstundenzuschlags abgeschwächt hat, ist vor dem Hintergrund der aktuellen EuGH-E stark in Zweifel zu ziehen, dass die unterschiedliche Zuschlagshöhe bzw die Zuschlagsfreiheit bei Zeitausgleich in den ersten drei Monaten nach erbrachter Mehrleistung tatsächlich gerechtfertigt sind.*
Das gilt noch mehr für die Bestimmung des § 19d Abs 3c AZG, der bei kollektivvertraglicher Verkürzung der wöchentlichen Normalarbeitszeit und zuschlagsfreien Mehrstunden von Vollzeitbeschäftigten vorsieht, dass Mehrstunden von Teilzeitbeschäftigten im gleichen Ausmaß zuschlagsfrei sind. Die Materialien nennen als Grund für diese Bestimmung, dass für Vollzeitbeschäftigte nicht einzusehen sei, wenn sie für Mehrarbeit keinen Zuschlag 211erhielten, Teilzeitbeschäftigte aber schon.* Hier liegt also nicht einmal ein substanzieller Rechtfertigungsgrund vor. Wenn man aufgrund der nunmehrigen EuGH-Rsp bei mangelnder Aliquotierung von einer Ungleichbehandlung auszugehen hat, kann diese aus den schon von Lutz/Mayr genannten Gründen nicht mit – von den Materialien behaupteten – subjektiven Gerechtigkeitsempfindungen gerechtfertigt werden.*
Die aktuelle EuGH-E zur Mehrarbeitsvergütung ist in mehrfacher Hinsicht auch für Österreich von Bedeutung. Mit der Abkehr von einem Gesamtvergleich und der isolierten Prüfung der Vergütung von Mehrleistungen ist der gegenüber dem gesetzlichen Überstundenzuschlag niedrigere Mehrarbeitszuschlag wohl als Ungleichbehandlung zu bewerten. Ob diese Ungleichbehandlung unionsrechtlich gerechtfertigt werden kann, erscheint mit Blick auf die vom EuGH in dieser E als geboten erachtete Miteinbeziehung individueller Belastungsfaktoren sehr zweifelhaft. Einschlägige Gerichtsverfahren wären wohl dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens vorzulegen. Mehr Klarheit könnte ein weiterer deutscher Vorlagebeschluss bringen,* der vor dem EuGH anhängig ist* und ausdrücklich thematisiert, ob Teilzeitbeschäftigte durch die Gewährung von Überstundenzuschlägen erst ab Überschreiten der tarifvertraglichen Normalarbeitszeit diskriminiert werden. Auch vor dem Hintergrund der aus diesen Verfahren resultierenden Rechtsunsicherheit, erschiene eine gesetzliche Angleichung der Mehrstunden- an die Überstundenzuschläge rechtspolitisch besonders wünschenswert und sachlich sinnvoll.