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Zur Einrichtung eines wirksamen innerbetrieblichen Kontroll systems (Teil 2)

REINHARDMINDEROCK (LINZ)
  1. § 335 Abs 1 ASVG ist auch dann anzuwenden, wenn ein Arbeitsunfall zwar nicht durch das vorsätzliche oder grob fahrlässige Verhalten eines Mitglieds des geschäftsführenden Organs, wohl aber durch ein solches Verhalten eines Repräsentanten der juristischen Person verursacht wurde.

  2. Nach § 334 Abs 1 ASVG hat der AG den Trägern der SV alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen, wenn er den Arbeitsunfall durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat. Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn er seine ihn als AG treffenden Pflichten aus dem AN-Schutz dadurch verletzt hat, dass er zahlreiche konkrete an ihn als AG adressierte AN-Schutzvorschriften außer Acht gelassen hat, sondern auch dann, wenn er kein ausreichendes Kontrollsystem im Betrieb eingerichtet hat, um Verstöße gegen AN-Schutzvorschriften hintanzuhalten.

  3. Repräsentant ist jeder, der in verantwortlicher, leitender oder überwachender Funktion Tätigkeiten für die juristische Person ausübt, wobei es auf das Erfordernis eines Wirkungskreises, der jenem eines Organs annähernd entspricht, nicht ankommt. Lediglich Personen, die untergeordnete Tätigkeiten ausüben, kommen nicht in Betracht. Ob jemand als Repräsentant anzusehen ist, richtet sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls.

[1] Die erstbekl Gesellschaft mbH wurde mit dem Austausch von Glaselementen beauftragt. Bei diesen Arbeiten stürzte der bei der Erstbekl beschäftigte S* aus ca 7,5 m Höhe mit der auszutauschenden 120-130 Kilo wiegenden Glasscheibe zu Boden und verletzte sich dabei schwer. Die kl Sozialversicherungsträger haben an den Verletzten Leistungen aus der gesetzlichen UV, KV und PV erbracht. Mit der vorliegenden Klage begehren sie von den Bekl deren Ersatz.

[2] Die Vorinstanzen stellten mit Teilzwischenurteil fest, dass die Leistungsbegehren dem Grunde nach zu Recht bestehen. Das grob fahrlässige Verhalten des Zweitbekl begründe eine Haftung der Erstbekl nach § 335 Abs 1 iVm § 334 Abs 1 ASVG. Der Zweitbekl selbst hafte als Vertreter des DG iSd §§ 334 Abs 1, 333 Abs 4 ASVG. Das Berufungsgericht ließ die Revision nicht zu.

[...]

[3] In ihrer außerordentlichen Revision zeigen die Bekl keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

[4] 1.1. Der originäre Ersatzanspruch eines Sozialversicherungsträgers nach § 334 Abs 1 ASVG setzt nach stRsp grobes Verschulden des DG selbst voraus; das Verhalten anderer Personen wird ihm grundsätzlich nicht nach § 1313a oder § 1315 ABGB zugerechnet (RS0085276). Nach § 335 Abs 1 ASVG ist § 334 ASVG allerdings (ua) auch dann anzuwenden, wenn der DG eine juristische Person ist und der Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig durch ein „Mitglied des geschäftsführenden Organs der juristischen Person [...] verursacht worden ist“.

[5] 1.2. In der E 2 Ob 73/17z (zust Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 335 ASVG Rz 5; krit aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten DRdA 2018/42, 426 [Schoditsch]) hat der OGH ausgesprochen, dass § 335 Abs 1 ASVG auch dann anzuwenden ist, wenn ein Arbeitsunfall zwar nicht durch das vorsätzliche oder grob fahrlässige Verhalten eines Mitglieds des geschäftsführenden Organs, wohl aber durch ein solches Verhalten eines Repräsentanten der juristischen Person verursacht wurde. 475

[6] 1.3. In ihrer außerordentlichen Revision üben die Bekl keine Kritik an dieser E, sondern fordern aus Gründen der Rechtssicherheit eine Klarstellung des OGH im Zusammenhang mit der mittlerweile ergangenen E 9 ObA 102/22y (ecolex 2023/147, 236 [Mazal]). Diese E ist hier aber nicht einschlägig, weil es im zugrundeliegenden Fall gerade nicht um die Haftung einer juristischen Person für ihre Repräsentanten ging, sondern um die Haftung einer natürlichen Person aus eigenem Organisationsverschulden in seiner Funktion als AG. Daraus folgt aber nicht, dass im Falle grober Fahrlässigkeit der AG immer haftet. Nach § 334 Abs 1 ASVG hat der AG den Trägern der SV alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen, wenn er den Arbeitsunfall durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat. Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn er seine ihn als AG treffenden Pflichten aus dem AN-Schutz dadurch verletzt hat, dass er zahlreiche konkrete an ihn als AG adressierte AN-Schutzvorschriften außer Acht gelassen hat, sondern auch dann, wenn er kein ausreichendes Kontrollsystem im Betrieb eingerichtet hat, um Verstöße gegen AN-Schutzvorschriften hintanzuhalten (9 ObA 102/22y). Insofern verlangt § 334 Abs 1 ASVG, dass der AG selbst vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat (RS0085276). Die Haftung des AG für seine Repräsentanten gründet hingegen darauf, dass das Verschulden von Personen, die in der Organisation der juristischen Person eine leitende oder überwachende Stellung innehaben und dabei mit eigenverantwortlicher Entscheidungsbefugnis ausgestattet sind, der juristischen Person (AG) zuzurechnen ist, weil diese als solche nicht deliktsfähig ist (2 Ob 73/17z). In den von der Revision angesprochenen Fällen, in denen den AG kein Verschulden am Arbeitsunfall trifft, weil er seine ihn treffenden Pflichten eingehalten hat und der Arbeitsunfall weder durch eine ihm gem § 333 Abs 4 ASVG gleichgestellte Person noch durch Mitglieder des geschäftsführenden Organs (§ 335 Abs 1 ASVG) oder seine Repräsentanten (§ 335 Abs 1 ASVG analog) verursacht wurde, ist eine Ersatzpflicht gegenüber dem Sozialversicherungsträger zu verneinen.

[7] 2.1. Repräsentant ist jeder, der in verantwortlicher, leitender oder überwachender Funktion Tätigkeiten für die juristische Person ausübt (RS0009113 [T16; T33]). Auf das Erfordernis eines Wirkungskreises, der jenem eines Organs annähernd entspricht, kommt es dabei nicht an (RS0009113 [T12]). Lediglich Personen, die untergeordnete Tätigkeiten ausüben, kommen nicht in Betracht (RS0009113 [T13]). So hat die Rsp etwa einen Polier als Repräsentanten beurteilt, der den Austausch von Fensterblechen angeordnet hat, obwohl beim oberen Gebäudeteil das Gerüst noch ungesichert war (8 Ob 84/02i), ebenso einen Baustellenkoordinator, der in dieser Eigenschaft für seine DG als Projektleiterin tätig war (2 Ob 162/08z) und den für eine Straßenbaustelle Bauleitenden Ingenieur (2 Ob 107/98v).

[8] 2.2. Ob jemand als Repräsentant einer juristischen Person anzusehen ist, richtet sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls, weshalb darin regelmäßig keine Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO liegt (3 Ob 180/03x; 6 Ob 186/22d Rz 7). Dass eine Rsp zu einem vergleichbaren Sachverhalt fehlt, begründet noch nicht das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage (RS0122015 [T4]). Die übereinstimmende Rechtsauffassung der Vorinstanzen, der Zweitbekl sei in verantwortlicher, leitender und überwachender Funktion für die Erstbekl tätig gewesen, bei diesem Aufgabenbereich könne jedenfalls nicht mehr von einer untergeordneten Tätigkeit ausgegangen werden, bewegt sich im Rahmen der Grundsätze der Rsp zur Qualifikation eines AN als Repräsentant.

[9] 2.3. Der Zweitbekl hat auf den Baustellen der Erstbekl regelmäßig die Leitung inne, ist Ansprechpartner vor Ort und sorgt ua dafür, dass die vom Geschäftsführer der Erstbekl erteilten Anordnungen und Weisungen zur Einhaltung der AN-Schutzvorschriften von den anwesenden Arbeitern auch eingehalten werden. Auch am Tag des Unfalls oblag dem Zweitbekl als einzigem Facharbeiter und Vorarbeiter die Verantwortung über die Baustelle. Er hatte an diesem Tag die Leitung über seine Arbeitskollegen und die durchzuführenden Arbeiten inne und war für die Einhaltung der vom Geschäftsführer erteilten Anordnungen und Weisungen zur Einhaltung der AN-Schutzvorschriften von sämtlichen Arbeitern verantwortlich.

[10] 2.4. Wenn das Berufungsgericht davon ausgegangen ist, dass diese dem Zweitbekl von der Erstbekl übertragene Leitung der Baustelle und die damit verbundene Verantwortung eine „eigenverantwortliche“ Entscheidungsbefugnis begründet, so ist dies nicht zu beanstanden. Eine Leitungsbefugnis des einzigen auf der Baustelle tätigen Facharbeiters und Vorarbeiters ohne eigenverantwortliche Entscheidungsbefugnis ist schwer denkbar. Wie der vorliegende Fall beispielhaft zeigt, hat der Zweitbekl aus eigenem – entgegen der mit dem Geschäftsführer vorbesprochenen Vorgangsweise – den kurz darauf verunglückten Mitarbeiter veranlasst, nicht auf den Kran samt Arbeitskorb zu warten, sondern zwecks Demontage der Glasscheibe auf eine in 7,5 m Höhe befindliche Brüstung zu steigen, wodurch es zu dem Absturz kommen konnte. Zudem hatte der Zweitbekl nach den Feststellungen auch nicht nur auf der konkreten Baustelle diese Befugnis inne, sondern hatte vielmehr regelmäßig die Leitung von Baustellen mit dem festgestellten Aufgaben- und Verantwortungsbereich über. Gerade aus der ihm von der Erstbekl gegenüber allen AN übertragenen Verantwortung für die Einhaltung der AN-Schutzvorschriften an Ort und Stelle leitet sich notwendigerweise eine eigenständige Kontroll- und Weisungsbefugnis ab. Richtig ist zwar, dass nicht jeder Aufseher im Betrieb als Repräsentant einer juristischen Person angesehen werden kann. Die Ansicht, nach den konkreten Umständen sei dies hier aber der Fall, hält sich aber innerhalb des dem Berufungsgericht offenstehenden Ermessensspielraums.

[11] 3.1. In der angesprochenen E 9 ObA 102/22y Rz 52 hat der OGH die herrschende Rsp zum Begriff der groben Fahrlässigkeit zusammengefasst. Danach ist grobe Fahrlässigkeit iSd § 334 Abs 1 476 ASVG dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit iSd § 1324 ABGB gleichzusetzen (RS0030510). Grobe Fahrlässigkeit ist immer dann anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar war (RS0030644). Nicht jede Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften bedeutet für sich allein aber bereits das Vorliegen grober Fahrlässigkeit (RS0052197; RS0026555). Andererseits kann aber auch schon ein einmaliger Verstoß gegen Schutzvorschriften grobe Fahrlässigkeit bewirken, wenn ein Schadenseintritt nach den gegebenen Umständen des Einzelfalls als wahrscheinlich voraussehbar ist (RS0030622). Bei der Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist nicht der Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern der Schwere des Sorgfaltsverstoßes und der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts besondere Bedeutung beizumessen (RS0085332; RS0031127 [T22]). Bei der Einschätzung der Schwere des Sorgfaltsverstoßes kommt es insb auch auf die Gefährlichkeit der Situation an (RS0022698).

[12] 3.2. Ob jemand einen Arbeitsunfall durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat, ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beurteilen (RS0085228 [T1]) und stellt – von Fällen einer vom OGH iSd Rechtssicherheit wahrzunehmenden Fehlbeurteilung abgesehen – keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0085228 [T15]). Die angefochtene E, die das Fehlverhalten des Zweitbekl als grob fahrlässig beurteilte, bewegt sich im Rahmen des den Gerichten eingeräumten Beurteilungsspielraums.

[13] 3.3. Nach den Feststellungen standen der Versicherte und der Zweitbekl ungesichert auf einer ca 40 cm breiten Brüstung in einer Höhe von 7,5 Metern, um sämtliche Schrauben einer 120- 130 kg wiegenden Glasscheibe zu lösen und diese händisch aus dem Rahmen herauszuheben und auf den zwischen der Fassade und der Brüstung befindlichen Gang zu stellen, anstatt entsprechend der Weisung der Erstbekl die Demontage lediglich vorzubereiten und auf den Kran samt Arbeitskorb zu warten, um die Glasscheibe herauszuheben. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, unter den gegebenen Umständen sei der Eintritt des Schadens nicht nur allenfalls möglich, sondern vielmehr durchaus wahrscheinlich gewesen, ist jedenfalls vertretbar.

[14] Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision der Bekl zurückzuweisen.

ANMERKUNG
1.
Einleitung

Das Haftungsprivileg des DG gem § 333 Abs 1 ASVG – Haftung nur bei Vorsatz – wird im Verhältnis zu den Sozialversicherungsträgern durch § 334 Abs 1 ASVG dergestalt eingeschränkt, dass gegenüber diesen eine regressrechtliche Ersatzpflicht bereits ab grob fahrlässiger Verursachung des Arbeitsunfalles (Berufskrankheit) besteht. Dieser Anspruch ist originärer Natur, also unabhängig von einem etwaigen Anspruch des Geschädigten (AB 613 BlgNR 7. GP 29). Die beiden vorliegenden Zurückweisungen außerordentlicher Revisionen des 9. Senats vom 18.10.2023 betreffen solche Regressansprüche der Sozialversicherungsträger gem § 334 Abs 1 ASVG gegen DG und Gleichgestellte. In 9 ObA 68/23z stürzte der AN bei einem mit dem Vorarbeiter versuchten Austausch von Glaselementen (ungesichert) von einer nur 40 cm breiten Brüstung aus 7,5 m Höhe mit einer 120- 130 kg schweren Glasscheibe zu Boden. In 9 ObA 74/23g stieg der AN in einen Betonmischtrog ohne vorherige Stromabschaltung ein und führte dort in gefahrenexponierter Position Schremmarbeiten durch. Gemeinsam ist beiden Entscheidungen, dass den DG jeweils grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen und daher der Anspruch gem § 334 Abs 1 ASVG bejaht wurde, worin dem OGH auch zuzustimmen ist. Unterschiedlich ist allerdings die Begründung der jeweiligen Haftung. Während in 9 ObA 68/23z der Vorarbeiter grob fahrlässig agierte und als Repräsentant der GmbH (DG) nach § 335 Abs 1 ASVG analog regressrechtlich zuzurechnen war, wurde in 9 ObA 74/23g dem DG (Rz 9: „Erst- bis Drittbeklagte“ sind die GmbH und ihre Organe iSd § 335 Abs 1 und Abs 2 ASVG) eigenes Organisationsverschulden aufgrund der unterlassenen Einrichtung eines wirksamen Kontrollsystems vorgeworfen.

Themen für eine Besprechung würden sich hier mehrere anbieten: Verjährungsfragen (§ 337 ASVG), Aufarbeitung der Judikatur zu grober Fahrlässigkeit (was jedoch in Anbetracht der wenig aussagekräftigen Zurückweisung außerordentlicher Revisionen und einer ohnehin anschaulichen Darstellung bei Neumayr/Huber in Schwimann/Kodek [Hrsg], ABGB Praxiskommentar5 [2022] § 334 ASVG Rz 20 ff, wenig zweckmäßig wäre) sowie Haftungsfragen im Zusammenhang mit Aufsehern im Betrieb und der Zurechnung von Repräsentanten (§ 335 Abs 1 ASVG analog). Allerdings wird in beiden Entscheidungen auf den Beschluss des 9. Senates vom 19.12.2022, 9 ObA 102/22y zurückgegriffen, der eine wenig beachtete Neuerung brachte: die Begründung grob fahrlässigen Verhaltens iSd § 334 Abs 1 ASVG – konkret grob fahrlässiges Organisationsverschulden des DG bei der Organisation seines Betriebes – mit dem Fehlen eines wirksamen innerbetrieblichen Kontrollsystems. Darauf wird im Folgenden näher eingegangen.

2.
Problemaufriss

Der Regressanspruch der Sozialversicherungsträger gem § 334 Abs 1 ASVG setzt den Vorwurf zumindest grob fahrlässiger Verursachung des Arbeitsunfalles (Berufskrankheit) voraus. Grobe Fahrlässigkeit ist stets nach den konkreten Umständen des Einzelfalles zu beurteilen (OGH9 ObA 9/10d SVSlg 58.246; RIS-Justiz RS0085228) und bei Verletzung von ANSchutzvorschriften zu bejahen, wenn nach objektiver Betrachtungsweise einfache und naheliegende 477 Überlegungen nicht angestellt wurden und dem DG der objektiv schwere Sorgfaltsverstoß auch subjektiv vorwerfbar ist (OGH 19.12.2022, 9 ObA 102/22y). In der nun vorliegenden E 9 ObA 74/23g hat der 9. Senat seine in 9 ObA 102/22y (insb Rz 55) begonnene Linie fortgeschrieben, indem er die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass schon das Fehlen eines wirksamen Kontrollsystems grob fahrlässig sei, nicht beanstandet hat (Rz 9). Dies wird man wohl nicht dahingehend generalisieren können, dass allein das Fehlen eines wirksamen Kontrollsystems stets einen Vorwurf grob fahrlässigen Verhaltens iSd § 334 Abs 1 ASVG bedeutet (vgl aber Rz 9 in 9 ObA 74/23g), bleibt aber letztlich offen.

Jedenfalls wird mit dieser neuen Judikaturlinie betont, dass Organisationsverschulden einen schwerwiegenden Verstoß gegen arbeitnehmerschutzrechtliche Bestimmungen darstellt. Treffend sind hierzu die Ausführungen Mazals, dass Organisationsverschulden kein abstrakter Vorwurf sei, sondern „Individualverschulden der Organisationsverantwortlichen“ (Anm zu OGH 9 ObA 68/23z ecolex 2024, 345 sowie Anm zu OGH9 ObA 102/22y ecolex 2023, 236). Eine von der angeführten Judikatur intendierte ernstzunehmende Haltung gegenüber jenen Normen, die dem Schutz der AN dienen, ist zweifellos zu begrüßen, wozu die Haftung gem § 334 ASVG in derartigen Fällen beitragen kann. § 334 Abs 1 ASVG wird in dieser Lenkungsfunktion seinem Zweck nämlich auch durchaus gerecht, verfolgt diese Regelung doch das klar erkennbare Ziel, grob fahrlässig handelnde DG (und Gleichgestellte) iS von General- und Spezialprävention zur Einhaltung der AN-Schutzvorschriften zu verhalten (vgl Atria in Sonntag [Hrsg], ASVG15 [2024] §§ 333-335 Rz 55; Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 334 ASVG [319. Lfg; 2023] Rz 3 mwN).

Allerdings ist bei Anwendung der neuen Formel durchaus Vorsicht geboten. Die Gründe hierfür findet man in ihrem Ursprung, der verwaltungsstrafrechtlichen Rsp vor allem des VwGH.

3.
Das innerbetriebliche Kontrollsystem in der Rsp
3.1.

Um Anhaltspunkte zum Ursprung des innerbetrieblichen Kontrollsystems in der OGH-Rsp zu § 334 ASVG zu finden, ist bloß ein (Rück-)Blick auf 9 ObA 102/22y erforderlich. In dieser E findet man die Wurzel der neuen Formel in Rz 46 f: „Arbeitgeber haben die zum Schutz des Lebens, der Gesundheit sowie der Integrität und Würde [...] erforderlichen Maßnahmen zu treffen [...]. Dieser grundsätzlichen Verpflichtung des Arbeitgebers, für Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer im Betrieb zu sorgen, wird der Arbeitgeber aber nicht schon etwa durch das Zur-Verfügung-Stellen von entsprechenden Sicherheitsausrüstungen oder der bloßen Erteilung der notwendigen Anweisungen, sondern erst dann gerecht, wenn er (auch) ein wirksames innerbetriebliches Kontrollsystem – zur Überprüfung der Einhaltung der Arbeitnehmerschutzvorschriften – einrichtet und auch tatsächliche entsprechende Kontrollhandlungen folgen [...].“ Der OGH übernahm hierbei maßgeblich die Ausführungen von Schneeberger (in Heider/Schneeberger, ArbeitnehmerInnenschutzgesetz7 [2017] § 3 ASchG Rz 3) und Nöstlinger (ArbeitnehmerInnenschutz2 [2013] 44 ff). Dabei ist die Formel der Einrichtung eines wirksamen innerbetrieblichen Kontrollsystems nicht ursprünglich auf diese Autoren zurückzuführen, sondern auf die (von ihnen zitierte) verwaltungsstrafrechtliche Judikatur des VwGH. Sohin kann festgehalten werden, dass sich der OGH (indirekt) eines Tatbestandsmerkmals aus der verwaltungsstrafrechtlichen Judikatur des VwGH zur Beurteilung grob fahrlässigen Verhaltens iSd § 334 Abs 1 ASVG bedient.

3.2.
Das innerbetriebliche Kontrollsystem im Verwaltungsstrafrecht

Auf Basis von §§ 3 und 4 ASchG trifft einen AG eine umfassende Pflicht zum Gefahrenschutz. Er hat seinen Betrieb so zu organisieren, dass es zu keinen Gefahren für die in seine Betriebsorganisation eingegliederten AN kommt (RIS-Justiz RS0111032) und haftet für die Verletzung der ihn treffenden AN-Schutzvorschriften, die typischerweise die Verwaltungsstrafe als Sanktionsinstrument vorsehen (RIS-Justiz RS0084412; vgl Mosler in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 § 18 AngG [Stand 1.1.2018; rdb.at] Rz 65 f mwN). Die Bekämpfung ergangener Straferkenntnisse führt demnach über die Landesverwaltungsgerichte zum VwGH. ANSchutzvorschriften stellen sogenannte Ungehorsamkeitsdelikte dar, bei denen es nach § 5 Verwaltungsstrafgesetz (VStG) nicht auf den Eintritt eines Schadens oder einer Gefahr ankommt. Fahrlässiges Verhalten wird in diesen Fällen vermutet, sodass der beschuldigte AG glaubhaft machen muss, dass ihn an der Verletzung der (arbeitnehmerschutzrechtlichen) Vorschrift kein Verschulden trifft (Mosler in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 § 18 AngG Rz 65). Nach der Rsp des VwGH können sich AG bzw verwaltungsstrafrechtlich Verantwortliche (§ 9 VStG) in diesem Sinne jedoch nur exkulpieren, wenn sie die Einrichtung eines wirksamen Kontrollsystems glaubhaft machen, das gerade auch bei eigenmächtigen Handlungen von AN greift (zB VwGH 30.4.2007, 2006/02/0034) – was in der Regel nicht gelingt (krit Storr/Heitzmann, Haftung für Organisationsverschulden – das unerreichbare Kontrollsystem? ZVG 2017, 177). Die Anforderungen der Rsp an ein solches (exkulpierendes) Kontrollsystem sind „äußerst streng“ (Lewisch in Lewisch/Fister/Weilguni [Hrsg], VStG3 § 9 [Stand 1.7.2023; rdb.at] Rz 41/2 mwN), sodass Schulungen und Arbeitsanweisungen bzw Betriebsanweisungen einschließlich deren Dokumentation gegebenenfalls zwar ausreichen, ein innerbetriebliches Kontrollsys tem zur Einhaltung der AN-Schutzvorschriften zu unterstützen, sie vermögen es aber nicht zu ersetzen (zB jüngst VwGH 31.1.2023, Ra 2023/02/0014). Soweit ersichtlich 478 hat der VwGH das Vorhandensein eines wirksamen Kontrollsystems bisher auch noch nie ausdrücklich bejaht (krit daher Storr/Heitzmann, ZVG 2017, 177: „intransparent und überzogen“; Berl/Berl, Das strafbefreiende Kontrollsystem im Verwaltungsstrafverfahren, wbl 2018, 669). Besonders problematisch ist hierbei, dass keine gesetzlichen Vorgaben zur Einrichtung eines Kontrollsystems existieren, weil es ausschließlich aus der Rsp hergeleitet wurde. Der VwGH betont sogar stets, dass es nicht Aufgabe der Behörden und Rsp sei, „Anleitungen dahingehend zu geben, wie aufbauend auf den in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien ein funktionierendes Kontrollsystem in einem Unternehmen bzw. Betrieb konkret zu gestalten ist [...]“ (VwGH 31.1.2023, Ra 2023/02/0014; VwGH 7.3.2016, Ra 2016/02/0030). Erscheint schon diese Schaffung eines exkulpierenden Tatbestandsmerkmals problematisch, so wird durch die fehlende Determinierung – was macht ein wirksames Kontrollsystem konkret aus? – die zu beurteilende Rechtsfrage, ob ein bestimmtes Kontrollsystem nun ausreichend ist, kaum zufriedenstellend lösbar.

Im Rahmen der Reform BGBl I 2018/57BGBl I 2018/57, bei der ua Abs 1a in § 5 VStG (Fahrlässigkeit wird nur noch bis zu einem Strafrahmen von € 50.000,– vermutet) eingefügt wurde, hat der Gesetzgeber auf diese Entwicklung reagiert. Er hat sogar in den Materialien ausdrücklich die Judikatur des VwGH zum wirksamen Kontrollsystem kritisch erwähnt, insb, dass die diesbezüglichen Anforderungen „laut Ansicht der hL streng“ seien (ErläutRV 193 BlgNR 26. GP 5). Deshalb solle „in Abkehr von dieser Rechtsprechung [...] ein Verschulden nicht anzunehmen sein, wenn der Verantwortliche nachweist, dass er eine qualitätsgesicherte Organisation eingerichtet und geführt hat, die [...] regelmäßig kontrolliert wird. Eine qualitätsgesicherte Organisation liegt etwa vor, wenn ein verlässlicher Mitarbeiter geschult und mit einer entsprechenden Kontrollaufgabe betraut wird. Kontrollsysteme wie beispielsweise die Sicherstellung des Vier-Augen- Prinzips, regelmäßige Stichproben usw. stellen weitere Maßnahmen dar, die geeignet sein können, die Einhaltung der Verwaltungsvorschriften sicherzustellen.“ (ErläutRV 193 BlgNR 26. GP 5). Dies ist nochmals hervorzuheben: Der Gesetzgeber wirkte der strengen Judikatur des VwGH mit der Erlassung des § 5 Abs 1a VStG entgegen und gab in den Materialien Anhaltspunkte dafür vor, in welchen Konstellationen doch von einem wirksamen Kontrollsystem auszugehen ist.

Darauf hat der VwGH skeptisch reagiert und die fehlende normative Kraft von Gesetzesmaterialien betont (VwGH 29.7.2022, Ra 2022/10/0087 Rz 16 ff; VwGH 21.5.2019, Ra 2019/09/0009, 0010 Rz 24 ff). Es haben sich jedoch in der jüngeren Judikatur auch bereits vereinzelt auflockernde Tendenzen gezeigt, indem Amtsrevisionen gegen die Aufhebung von Straferkenntnissen zurückgewiesen und damit indirekt vom Bestehen eines ausreichenden Kontrollsystems ausgegangen wurde (zB VwGH 16.3.2021, Ra 2021/05/0039; VwGHRo 2019/04/0007 JBl 2021, 610). Freilich sind damit die zahlreichen Kritikpunkte – wie fehlende gesetzliche Regelung, intransparente Vorgaben in der Rsp, zu strenge Anforderungen – (noch) nicht ausgeräumt (zur Kritik ausführlich Lewisch in Lewisch/Fister/Weilguni [Hrsg], VStG3 § 9 Rz 41/2 ff mwN; Storr/Heitzmann, ZVG 2017, 177; Berl/Berl, wbl 2018, 669). Eine Vielzahl an positiven VwGH-Entscheidungen zu ausreichenden Kontrollsystemen sind aber auch in Zukunft nicht zu erwarten, denn liegt ein ausreichendes Kontrollsystem vor, so wird dies in der Regel bereits frühzeitig zur Verfahrenseinstellung führen und das Höchstgericht damit nicht befasst werden.

4.
Resümee

Bei Beurteilung von Regressansprüchen iSd § 334 Abs 1 ASVG ist letztlich von den Zivilgerichten zu entscheiden, ob in einem konkreten Fall entsprechend der „neuen“ Formel des 9. Senats ein ausreichend wirksames Kontrollsystem vorliegt und inwieweit die Nichteinrichtung eines solchen grobe Fahrlässigkeit darstellt. Dabei sollten aufgrund der dargestellten Unzulänglichkeiten keine großen Anleihen an der (bisherigen) verwaltungsstrafrechtlichen Judikatur genommen werden (die sich jedoch in einem Wandel zu befinden scheint). Für mehr Rechtssicherheit wäre hingegen gesorgt, wenn vor allem in der Rsp Merkmale eines ausreichenden Kontrollsystems möglichst konkret positiv determiniert werden und sich die Ausführungen nicht bereits in allgemeinen Richtlinien erschöpfen. Als Ausgangspunkt können auch die Materialien zur Reform BGBl I 2018/57BGBl I 2018/57 (ErläutRV 193 BlgNR 26. GP 5) dienen, die bei regelmäßigen Kontrollen durch externe Prüfungen oder interne Überwachung (zB durch Betrauung geeigneter Mitarbeiter mit Kontrollaufgaben, fortlaufende Schulungen, den Einsatz automatisierter Überwachungsinstrumente) von einer ausreichend „qualitätsgesicherten Organisation“ ausgehen. Konkret werden zudem die Schulung verlässlicher Mitarbeiter und deren Betrauung mit Kontrollaufgaben, die Sicherstellung des Vier-Augen-Prinzips und regelmäßige Stichproben als geeignete Maßnahmen genannt.

Solange aber weitgehend offen ist, was ein Kontrollsystem konkret ausmacht, fehlt es nicht nur an der notwendigen Vorhersehbarkeit für Rechtsanwender, sondern kann auch die entscheidende Rechtsfrage, ob in einem konkreten Fall ein ausreichend wirksames Kontrollsystem eingerichtet wurde, nicht beurteilt werden. Vor einem „unerreichbaren Kontrollsystem“ (Storr/Heitzmann, ZVG 2017, 177) iSd angeführten verwaltungsstrafrechtlichen Judikatur sollte man im Zusammenhang mit dem Regressanspruch gem § 334 Abs 1 ASVG jedenfalls gewarnt sein. 479