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Lehrverhältnis – schriftliches Nachholen einer mündlichen Austrittserklärung

SUSANNEGITTENBERGER

Der Ausspruch der vorzeitigen Auflösung des Lehrverhältnisses kann zwar grundsätzlich nur unverzüglich und schriftlich erfolgen. Eine – für sich gesehen verspätete – schriftliche Auflösungserklärung darf jedoch nicht isoliert gesehen werden, wenn bereits vorher eine eindeutige mündliche Auflösungserklärung abgegeben wurde und beide Teile davon ausgegangen sind, dass das Lehrverhältnis beendet wird. Das Unterlassen der unverzüglichen formgültigen Auflösungserklärung führt demnach dann nicht zur Verwirkung des Auflösungsrechts, wenn die Verzögerung in der Sachlage begründet, also durch einen besonderen Grund gerechtfertigt ist.

SACHVERHALT

Die Kl war bei der Bekl als Lehrling beschäftigt. Am 14.12.2013 sandten die Eltern der Kl eine E-Mail an die Bekl, in der die sofortige Auflösung des Lehrvertrags wegen Beschimpfungen und Drohungen gegenüber der Kl erklärt wurde. Am 15.12.2013 wiederholte der Vater der Kl gegenüber dem Vertre-133ter der Bekl, dass diese nicht mehr zur Arbeit kommen werde; der Vertreter der Bekl hatte bei diesem Gespräch das E-Mail in Händen. Die Bekl meldete die Kl mit dem Grund „Kündigung durch den Dienstnehmer“ bei der Gebietskrankenkasse ab. Die (nunmehrige) Rechtsvertreterin der Bekl teilte der Rechtsvertreterin der Kl mit Schreiben vom 20.1.2014 mit, dass keine formgültige Austrittserklärung der Kl vorliege, das Lehrverhältnis aufrecht sei und die Kl deshalb aufgefordert werde, ihren Lehrplatz „aufzunehmen“. Die Rechtsvertreterin der Kl teilt umgehend mit, dass sie von einer rechtswirksamen Auflösung des Lehrverhältnisses ausgehe, sicherheitshalber aber dennoch den berechtigten vorzeitigen Austritt erkläre. Darauf wurde die Kl wegen Nichtantritts der Arbeit entlassen. Die Kl begehrte nun Kündigungsentschädigung/Schadenersatz aufgrund ihres berechtigten vorzeitigen Austritts am 14.12.2013.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Vorinstanzen wiesen das Klagebegehren ab, da die schriftliche Auflösungserklärung zu spät nachgeholt worden sei. Der OGH sah die E der Vorinstanzen als korrekturbedürftig und damit die außerordentliche Revision als zulässig und auch als berechtigt an. Da zur Höhe des Klagebegehrens weitere Feststellungen erforderlich waren, erwies sich das Verfahren jedoch als ergänzungsbedürftig; der OGH hob daher die Entscheidungen der Vorinstanzen auf.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…] Nach ständiger Rechtsprechung kann der Ausspruch der vorzeitigen Auflösung des Lehrverhältnisses zwar grundsätzlich nur unverzüglich und schriftlich erfolgen, doch kann die (spätere) schriftliche Auflösungserklärung nicht isoliert gesehen werden, wenn bereits vorher eine eindeutige mündliche Auflösungserklärung abgegeben wurde und beide Teile davon ausgegangen sind, dass das Lehrverhältnis beendet wird […]. Das Unterlassen der unverzüglichen (formgültigen) Auflösungserklärung führt demnach dann nicht zur Verwirkung des Auflösungsrechts, wenn die Verzögerung in der Sachlage begründet, also durch einen besonderen Grund gerechtfertigt ist […].

[…] Für die Beklagte konnte […] kein Zweifel bestehen, dass das Lehrverhältnis aus Sicht der Klägerin beendet ist. Die Beklagte hat diese Konsequenz zunächst auch akzeptiert und dementsprechend die Klägerin mit dem Grund ‚Kündigung durch den Dienstnehmer‘ bei der Gebietskrankenkasse abgemeldet. Daraus folgt, dass zunächst beide Teile davon ausgegangen sind, dass das Lehrverhältnis beendet sei. […]

Der Meinungsumschwung bei der Beklagten trat erst nach Kontaktierung ihrer Rechtsvertreterin ein. Ab diesem Zeitpunkt stellte sich die Beklagte auf den Standpunkt, dass das Lehrverhältnis mangels formgültiger Austrittserklärung weiterhin aufrecht sei. […]

Daraufhin wurde – die nunmehr formwirksame – Auflösungserklärung durch die Rechtsvertreterin der Klägerin postwendend nachgeholt.

[…] In dieser besonderen Situation konnte die Klägerin bis zum Zugang des Schreibens der Rechtsvertreterin der Beklagten davon ausgehen, dass ihr Lehrverhältnis aufgelöst sei. Gleichzeitig bestand für die Beklagte kein relevantes Klarstellungsbedürfnis, zumal ihr die Haltung der Klägerin vollkommen klar war. Von einem Verzicht der Klägerin auf die Geltendmachung ihres Auflösungsrechts durch das Zuwarten mit dem Nachholen der schriftlichen Auflösungserklärung kann nicht ausgegangen werden. Die objektive Verzögerung bis zu diesem Nachholen war vielmehr durch die beschriebene Sachlage ausreichend gerechtfertigt. […]

[…] Als Ergebnis folgt somit, dass das Schreiben der Rechtsvertreterin der Klägerin vom 22.1.2014 eine rechtzeitige und rechtswirksame Auflösungserklärung des Lehrverhältnisses im Sinn des § 15 BAG darstellte. […]“

ERLÄUTERUNG

Der OGH hat sich im vorliegenden Fall damit befasst, ob die einer mündlichen und unwirksamen Austrittserklärung nachfolgende schriftliche und formwirksame Austrittserklärung das Lehrverhältnis beendet hat oder verspätet war. Nach § 15 Abs 2 BAG bedarf die Auflösung des Lehrvertrags zu ihrer Rechtswirksamkeit der Schriftform. Wenn das Erfordernis der Schriftform nicht eingehalten wird, dann tritt die Auflösung des Lehrverhältnisses im Allgemeinen nicht ein. Ebenso muss der Ausspruch einer vorzeitigen Auflösung des Lehrverhältnisses grundsätzlich unverzüglich erfolgen, damit das Auflösungsrecht nicht verwirkt wird. Damit eine nachträglich abgegebene, verzögerte schriftliche Auflösungserklärung als noch rechtzeitig angesehen wird, müssen besondere Gründe vorliegen, die im Einzelfall zu beurteilen sind.

Im vorliegenden Fall wurde die Austrittserklärung vom 14.12.2013 zwar per E-Mail verschickt, jedoch war sie nicht von der Kl unterschrieben (oder qualifiziert elektronisch signiert) worden. Die Erklärung erfüllte daher nicht das Schriftformgebot des § 15 Abs 2 BAG. Darüber hinaus war sie nicht von der Kl selbst, sondern von ihren Eltern abgegeben worden. Folglich war der Austritt nicht rechtswirksam erklärt worden. Dh, die Austrittserklärung hatte keine Beendigungswirkung.

Nach Ansicht des OGH konnte aber für die Bekl kein Zweifel daran bestehen, dass das Lehrverhältnis aus Sicht der Kl beendet ist. Dies folgerte der OGH daraus, dass der Vertreter der Bekl beim Gespräch am 15.12.2013 die E-Mail der Eltern der Kl in Händen hatte und der Vater der Kl ausdrücklich wiederholte, dass die Kl nicht mehr zur Arbeit kom-134men werde. Die Bekl akzeptierte dies zunächst auch und meldete die Kl bei der Gebietskrankenkasse ab. Es gab also eine eindeutige mündliche Auflösungserklärung und beide Teile – die Bekl zumindest bis zum Kontakt mit ihrer Rechtsvertreterin – gingen von der Beendigung des Lehrverhältnisses aus. Deshalb kann die schriftliche und formwirksame Auflösungserklärung der Rechtsvertreterin der Kl nicht als verspätet angesehen werden. Sie erfolgte umgehend auf das Schreiben der Rechtsvertreterin der Bekl, mit dem diese die Beendigungswirkung der mündlichen Auflösungserklärung erstmals in Zweifel gezogen hatte.

Auflösungserklärung im Zusammenhang mit der besonderen Situation (eindeutige mündliche Auflösungserklärung, Beendigung aus Sicht beider Teile) betrachtet. Zwar konnte der mündliche erklärte Austritt auf Grund des gesetzlichen Schriftformgebots das Lehrverhältnis nicht beenden. Allerdings hielt es der OGH für rechtlich relevant, dass alle Beteiligten von einer Beendigungswirkung ausgegangen waren. Dies hat den Gerichtshof dazu veranlasst, die erst sieben Wochen später abgegebene schriftliche Auflösungserklärung als nicht verspätet anzusehen. Der Grundsatz der „Unverzüglichkeit“ soll nämlich lediglich sicherstellen, dass keine der beiden Parteien im Unklaren über die Rechtsfolgen einer Auflösungserklärung bleibt. Im konkreten Fall hatte jedoch weder der Kl noch die Bekl Zweifel an der Beendigungswirkung. Vor allem die Bekl wurde also durch die verspätet abgegebene Auflösungserklärung nicht überrascht. Zu Recht ist daher der OGH davon ausgegangen, dass das Lehrverhältnis durch die schriftliche Auflösungserklärung rechtsgültig aufgelöst worden ist.