12KollV Arb Elektro- und Elektronikindustrie – Anspruch auf volles Urlaubsgeld auch bei bereits vor Fälligkeit feststehendem Ende des Arbeitsverhältnisses
KollV Arb Elektro- und Elektronikindustrie – Anspruch auf volles Urlaubsgeld auch bei bereits vor Fälligkeit feststehendem Ende des Arbeitsverhältnisses
Die Auffassung, dass eine Aliquotierung des Urlaubsgeldes auch stattzufinden habe, wenn bereits vor Fälligkeit der Sonderzahlung aufgrund einer AG-Kündigung feststehe, dass das Arbeitsverhältnis während des Kalenderjahres ende, findet im Wortlaut der Kollektivvertragsbestimmung keine Deckung.
Darauf, ob der AG die Sonderzahlung bei Fälligkeit tatsächlich vollständig bezahlt hat oder nicht, kann es nicht ankommen, weil der AG es sonst in der Hand hätte, die Höhe der Sonderzahlung durch rechtswidrige Nichtzahlung zu beeinflussen.
Der Kl war bei der Bekl ab 19.11.2018 als Arbeiter beschäftigt. Sein Arbeitsverhältnis, das dem KollV für Arbeiter der Elektro- und Elektronikindustrie (KollVArbEEI) unterlag, wurde von der Bekl am 22.5. zum 31.7.2020 aufgekündigt.
Abschnitt 9 des KollV betreffend Sonderzahlungsansprüche lautet auszugsweise:
„Urlaubsgeld 3. Das Urlaubsgeld gebührt neben dem gesetzlichen Urlaubsentgelt und ist spätestens mit der Abrechnung für Juni vollständig zu zahlen. […]
Aliquote Sonderzahlungen
[…] 6. Endet das Arbeitsverhältnis während des Kalenderjahres und wurde das Urlaubs- bzw. Weihnachtsgeld bereits bezahlt, ist der auf den restlichen Teil des Kalenderjahres entfallende Teil zurückzuzahlen bzw. wird dieser Teil bei der Endabrechnung abgezogen (1/52 pro begonnene Kalenderwoche), wenn das Arbeitsverhältnis durchKündigung durch die Arbeitnehmerin bzw. den Arbeitnehmer,
Entlassung aus Verschulden der Arbeitnehmerin bzw. des Arbeitnehmers oder
Austritt ohne wichtigen Grund
aufgelöst wird.
Endet das Arbeitsverhältnis während des Kalenderjahres und wurde das Urlaubs- bzw. Weihnachtsgeld noch nicht bezahlt, gebührt die betreffende Sonderzahlung aliquot (1/52 pro begonnene Kalenderwoche). Dieser Anspruch entfällt bei
Entlassung aus Verschulden der Arbeitnehmerin bzw. des Arbeitnehmers,
Austritt ohne wichtigen Grund.“
Bei der Bekl ist der 15.6. als einheitlicher Zeitpunkt für die Auszahlung des Urlaubsgeldes durch BV festgelegt. Ende Mai/Anfang Juni 2020 erhielt der Kl das anteilige Urlaubsgeld für den Zeitraum 1.1. bis 31.7.2020 ausbezahlt. Mit seiner Klage begehrte er die Differenz zum vollen Urlaubsgeld. Die Bekl beantragte Klagsabweisung und brachte vor, dass das Urlaubsgeld nur aliquot gebühre, sofern das Arbeitsverhältnis während des Kalenderjahres ende, was zum Fälligkeitstermin des Urlaubsgeldes bereits festgestanden habe, und das Urlaubsgeld noch nicht bezahlt worden sei.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Das Arbeitsverhältnis des Kl habe zu einem Zeitpunkt geendet, in dem der Urlaubszuschuss bereits fällig und zu zahlen gewesen sei. Dem Kl gebühre daher nach Abschnitt 9 Pkt 6. erster Fall des nach seinem Wortlaut eindeutigen KollV der gesamte Urlaubszuschuss.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl Folge und wies das Klagebegehren ab. Für die Beurteilung sei maßgeblich, ob aus den Bestimmungen des Abschnitts 9 Pkt 6. des KollV hervorgehe, dass der Urlaubszuschuss auch dann zur Gänze am 15.6. fällig werde, wenn zu diesem Zeitpunkt bereits feststehe, dass das Arbeitsverhältnis während des Kalenderjahres ende. Dafür scheine der Wortlaut zu sprechen, jedoch könnten die Bestimmungen iVm der Systematik und dem erkennbaren Zweck und Zusammenhang nur so ausgelegt werden, dass dann, wenn die Beendigung des Arbeitsverhältnisses vor Eintritt der Fälligkeit des Urlaubsgeldes bereits feststehe, der Anspruch nur in dem der – zu diesem Zeitpunkt bereits feststehenden – Gesamtdauer des Arbeitsverhältnisses entsprechenden aliquoten Ausmaß gebühre, weil dem KollV der Grundsatz der Aliquotierung der Sonderzahlungen immanent sei.
Der OGH hielt die außerordentliche Revision des Kl für zulässig und auch berechtigt und stellte das klagsstattgebende Ersturteil wieder her.
„1. Der normative Teil eines Kollektivvertrags ist gemäß den §§ 6 und 7 ABGB nach seinem objek24tiven Inhalt auszulegen (RIS-Justiz RS0010088RS0010088; RS0008807RS0008807; RS0008782RS0008782). In erster Linie ist daher der Wortsinn – auch im Zusammenhang mit den übrigen Regelungen – zu erforschen und die sich aus dem Text des Kollektivvertrags ergebende Absicht der Kollektivvertragsparteien zu berücksichtigen (RS0010089RS0010089 [T2]). Eine über die Wortinterpretation hinausgehende Auslegung ist (nur) dann erforderlich, wenn die Formulierung mehrdeutig, missverständlich oder unvollständig ist, wobei der äußerst mögliche Wortsinn die Grenze jeglicher Auslegung bildet (RS0010089RS0010089 [T38]). Da den Kollektivvertragsparteien grundsätzlich unterstellt werden darf, dass sie eine vernünftige, zweckentsprechende und praktisch durchführbare Regelung treffen sowie einen gerechten Ausgleich der sozialen und wirtschaftlichen Interessen herbeiführen wollten, ist bei mehreren an sich in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten, wenn alle anderen Auslegungsgrundsätze versagen, jener der Vorzug zu geben, die diesen Anforderungen am meisten entspricht (RS0008828; RS0008897). […]
2.1 […] Punkt 6. des Abschnitts 9 des KVArbEEI regelt die Aliquotierung des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes bei Ende des Arbeitsverhältnisses während des Kalenderjahres und unterscheidet zwei Fallgruppen danach, ob das Urlaubs- und Weihnachtsgeld bereits bezahlt wurde (erster Fall) oder noch nicht bezahlt wurde (zweiter Fall). Während der Kollektivvertrag im zweiten Fall (außer bei Beendigungen durch Entlassung aus Verschulden des Arbeitnehmers und Austritt ohne wichtigen Grund, bei denen der Anspruch überhaupt entfällt) immer eine Aliquotierung anordnet, ist das Verhältnis Regel-Ausnahme im ersten Fall umgekehrt und nur dann eine Aliquotierung vorgesehen, wenn das Arbeitsverhältnis durch Kündigung des Arbeitnehmers, Entlassung aus Verschulden des Arbeitnehmers oder Austritt ohne wichtigen Grund aufgelöst wird. In allen anderen Fällen – also auch bei einer Kündigung durch den Arbeitgeber wie hier – gebührt dem Arbeitnehmer demnach das volle Urlaubs- bzw Weihnachtsgeld. […]
In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass – wovon auch die Parteien und Vorinstanzen ganz offenbar ausgehen – der Tag maßgeblich ist, an dem das Urlaubsgeld zur Gänze hätte bezahlt werden müssen, also der Fälligkeitstag (hier der 15.6.2020). Darauf, ob der Arbeitgeber die Sonderzahlung bei Fälligkeit tatsächlich vollständig bezahlt hat oder nicht, kann es nicht ankommen, weil der Arbeitgeber es sonst in der Hand hätte, die Höhe der Sonderzahlung durch rechtswidrige Nichtzahlung zu beeinflussen.
2.2 Da zum Fälligkeitszeitpunkt des Urlaubsgeldes das Arbeitsverhältnis des Klägers noch aufrecht war (bis 31.7.2020), scheidet eine Aliquotierung nach der zweiten Fallgruppe des Abschnitts 9 Punkt 6. des KVArbEEI aus. Aber auch eine Aliquotierung nach der ersten Fallgruppe kommt nicht in Betracht, weil das Arbeitsverhältnis ja durch Arbeitgeberkündigung aufgelöst wurde.
Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass eine Aliquotierung des Urlaubsgeldes auch stattzufinden habe, wenn bereits vor Fälligkeit der Sonderzahlung feststehe, dass das Arbeitsverhältnis während des Kalenderjahres ende, findet im Wortlaut der Kollektivvertragsbestimmungen keine Deckung.
3.1 Für eine über die Wortinterpretation hinausgehende Auslegung der einschlägigen Regelungen des KVArbEEI besteht kein Anlass:
Der Ansicht des Berufungsgerichts, dass dem Kollektivvertrag der Grundsatz der Aliquotierung der Sonderzahlungen immanent sei, kann in dieser Form nicht beigetreten werden, weil der Anspruch innerhalb der zweiten Fallgruppe bei bestimmten Beendigungsarten gar nicht besteht und innerhalb der ersten Fallgruppe nur bei bestimmten Beendigungsarten aliquotiert wird. Das Argument des Berufungsgerichts, die erste Fallgruppe diene (bloß) dem Schutz jener Arbeitnehmer, welche im Vertrauen auf das aufrechte Arbeitsverhältnis die erhaltene Sonderzahlung bereits gutgläubig verbraucht hätten, überzeugt insofern nicht, als – wie gezeigt wurde – gerade nicht die tatsächliche Zahlung durch den Arbeitgeber entscheidend ist. […]
3.2 Auch die Entscheidung 9ObA84/13p&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=False&SucheNachText=True" target="_blank">9 ObA 84/13p vermag die Beurteilung des Berufungsgerichts im Anlassfall nicht zu stützen: Der dort anzuwendende Kollektivvertrag für Angestellte und Lehrlinge in Handelsbetrieben verfügte die Fälligkeit der Urlaubsbeihilfe bei Urlaubsantritt, spätestens aber am 30.6., und sah ausdrücklich die Aliquotierung der Urlaubsbeihilfe für den Fall vor, dass bei Urlaubsantritt die Beendigung des Arbeits- oder Lehrverhältnisses bereits feststeht. Davon ausgehend stellte sich die Frage, ob diese Aliquotierungsregelung auch für den Fall zu gelten hat, dass vor (Fälligkeit der Urlaubsbeihilfe mit) 30.6. die Beendigung des Arbeits- oder Lehrverhältnisses bereits feststeht. Diese Frage bejahte der Oberste Gerichtshof, weil der ungeregelte dem geregelten Fall als wertungsgleich erachtet wurde. Im KVArbEEI fehlt jedoch, wie der Kläger zu Recht einwendet, ein wertungsmäßig vergleichbarer Aliquotierungstatbestand, der sich auf den vorliegenden Sachverhalt übertragen ließe. […]
Gegenstand der OGH-E 9 ObA 84/13p vom 29.1.2014, auf die in der aktuellen E Bezug genommen wird, war ebenfalls die Differenz auf eine volle Urlaubsbeihilfe. Der E lag ein vergleichbarer Sachverhalt zugrunde: Auch dort wurde vor Eintritt der Fälligkeit der Urlaubsbeihilfe eine AG-Kündigung ausgesprochen und auch dort endete das Arbeitsverhältnis aufgrund der einzuhaltenden Kündigungsfrist erst nach diesem Fälligkeitszeitpunkt. Die Gehaltsordnung des dort angewandten KollV für Handelsangestellte sah (und 25sieht) zudem gleichermaßen eine anteilige Rückverrechnung der bereits erhaltenen Urlaubsbeihilfe zwar bei AN-Kündigung, unbegründetem vorzeitigem Austritt und begründeter Entlassung vor, nicht hingegen im Falle einer AG-Kündigung.
Im Unterschied aber zu den Aliquotierungsregeln des KollVArbEEI sah und sieht der KollV für Handelsangestellte, der die Fälligkeit der Urlaubsbeihilfe auf den Zeitpunkt des Urlaubsantritts, spätestens aber auf den 30.6. legt, eine Aliquotierung der Urlaubsbeihilfe auch dann vor, wenn bei Urlaubsantritt die Beendigung des Arbeitsverhältnisses bereits feststeht. Zwischen diesem weiteren Aliquotierungstatbestand und dem damals zu beurteilenden Fall, in dem zwar kein Urlaubsantritt erfolgt war, die Beendigung des Arbeitsverhältnisses jedoch gleichermaßen vor dem Fälligkeitstermin, der dann der 30.6. war, feststand, erkannte der OGH eine wertungsmäßige Entsprechung, sodass er damals einen Anspruch auf volle Urlaubsbeihilfe verneinte.
In der etwas älteren OGHE 9 ObA 207/94 vom 28.9.1994 hatte der OGH einen ähnlichen Sachverhalt zu beurteilen, damals im Anwendungsbereich des KollV für Angestellte der Wirtschaftstreuhänder, der in seiner damaligen Fassung die Fälligkeit des Urlaubszuschusses ebenfalls auf den Zeitpunkt des Urlaubsantritts (und spätestens auf den 30.9.) legte und eine anteilige Rückverrechnung bereits ausbezahlter Sonderzahlungen nur bei AN-Kündigung, unbegründetem vorzeitigen Austritt und begründeter Entlassung vorsah. Ein weiterer Aliquotierungstatbestand ähnlich jenem des KollV für Handelsangestellte war hingegen nicht vorgesehen. In diesem Fall konsumierte die AN nach Ausspruch einer AG-Kündigung ihren Resturlaub während der Kündigungsfrist. Nachdem ihr lediglich der aliquote Urlaubszuschuss ausbezahlt worden war, begehrte sie die Differenz auf die volle Sonderzahlung. So wie in der nun ergangenen E sprach der OGH auch damals die Differenz auf den vollen Urlaubszuschuss zu.
In allen drei Entscheidungen ging der OGH überdies davon aus, dass es nach den Aliquotierungsbestimmungen der drei Kollektivverträge für die Frage einer anteiligen Rückforderbarkeit der Urlaubsgelder nicht darauf ankommen kann, ob diese tatsächlich bereits ausbezahlt wurden oder nicht, sondern nur darauf, ob diese nach den jeweiligen kollektivvertraglichen Bestimmungen bereits fällig waren, hätte es der AG doch sonst in der Hand, die Höhe der Sonderzahlung durch rechtswidrige Nichtzahlung zu seinen Gunsten zu beeinflussen.